Anlage 1: Petersens Wirken in der Weimarer Republik
Der Reformpädagoge und Theologe Peter Petersen (1884-1952) gehörte zu der Generation deutscher Wissenschaftseliten, deren frühe Sozialisation noch im Kaiserreich erfolgte, die beim Übergang zur Demokratie gleichsam am Beginn ihrer wissenschaftlichen bzw. akademischen Karriere standen, deren entsprechende Wirkungsphase mit dem gesellschaftlich-intellektuellen Aufbruch nach 1918 zusammenfiel und die am Ende der Weimarer Republik bereits zu den renommierten Wissenschaftlern zählten. Es handelte sich gleichsam um eine von der Weimarer Zeit - wie auch immer - geprägte "Zwischengeneration" zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich". Diese "Weimar"-bezogene, stark vom Weltkriegserlebnis beeinflusste Generationsprägung teilte Petersen mit anderen Pädagogen seiner Zeit wie Herman Nohl (1879-1960), Eduard Spranger (1882-1963) und Wilhelm Flitner (1889-1990) oder mit den Philosophen Karl Jaspers (1883-1969) und Martin Heidegger (1889-1969), die in der Weimarer und der NS-Zeit freilich sehr unterschiedliche Wege beschritten. Im Unterschied zu dieser "Zwischengeneration" stand die vom Kaiserreich geprägte ältere Wissenschaftlergeneration 1933 bereits am Ende ihrer Karriere. Die meisten ihrer Repräsentanten lehnten die Weimarer Republik ab. Nur eine Minderheit verhielt sich wie der Historiker Friedrich Meinecke (1862-1954), der sich selbst 1919 als Vernunftrepublikaner bezeichnete und so das bekannte Schlagwort für jene Elitengruppen schuf, die sich - wie der kleine Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer (1926) - auf den Boden der Weimarer Demokratie stellten.[2Externer Link]
Bei dem mit Kriegsende, Revolution und Republikgründung verbundenen "Aufbruch 1918"[3Externer Link] war Petersen 34 Jahre alt. Er promovierte 1908 (bei dem Jenaer Philosophen Rudolf Eucken) und habilitierte sich 1920 in Hamburg. Seit 1912 war er Oberlehrer am Hamburger Traditionsgymnasium Johanneum und Sekretär im Vorstand des Bundes für Schulreform. 1919 wurde er Vorsitzender der Hamburger Volkskirchenbewegung, 1920 Lehrer und für ein Jahr Schulleiter an der reformorientierten Hamburger Lichtwarkschule (wie sie seit 1921 hieß). 1923 berief ihn der Thüringer Volksbildungsminister Max Greil (SPD) gegen anders lautende universitäre Listenvorschläge als Nachfolger Wilhelm Reins (1847-1929) an die Philosophische Fakultät der Thüringischen Landesuniversität Jena, wo er das Pädagogische Seminar und die damit verbundene Universitäts-Übungsschule übernahm und reformpädagogisch umgestaltete.
Jena war schon unter dem Herbartianer Rein um 1900 zu einem pädagogischen Mekka geworden und hatte 1919 durch die von Rein und dem liberalen Theologen Heinrich Weinel (1874-1936) universitär unterstützte Volkshochschul-Bewegung einen Entwicklungsschub erhalten. Mit Petersens Berufung setzte aber eine deutlich neue Entwicklungsphase des pädagogischen Jenas ein.[4Externer Link] Erstmals erhielt ein bekennender Vertreter Neuer Erziehung einen Universitätslehrstuhl und zudem die Möglichkeit, an der Universitätsschule seine Reformideen integrierter pädagogischer Praxis umzusetzen. Die universitäre Verbindung von Theorie und Praxis ermöglichte empirische Forschung (pädagogische Tatsachenforschung) und die Umgestaltung der Universitätsschule zu einer reformpädagogischen Lebensgemeinschaftsschule. 1927 stellte Petersen sie auf der internationalen reformpädagogischen Konferenz in Locarno vor. Unter dem hier geprägten Etikett Jenaplan beschrieb Petersen dieses Schulmodell einer freien allgemeinen Volksschule (nach den Grundsätzen Neuer Erziehung) dann in seinen Schriften 1927/29 (Kleiner Jenaplan), die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Damit wurden Petersens Erziehungswissenschaftliche Anstalt - wie sie seit 1924 hieß - und seine Universitätsschule zu einem weit ausstrahlenden Zentrum moderner Reformpädagogik, während sich das politische Klima im Lande Thüringen nach dem Regierungs- und Konstellationswechsel 1924 unter der von einer völkisch-nationalsozialistischen Landtagsfraktion gestützten Thüringer Ordnungsbund-Regierung (1924/27) deutlich verschlechterte.
Petersens Jenaer Berufung 1923 erfolgte im Kontext linksrepublikanischer Reformpolitik des sozialdemokratischen Volksbildungsministers Greil. Der seit 1921 amtierende Greil betrieb energisch die vereinheitlichende Integration der den sieben Gründerstaaten des Landes Thüringen (1920) entstammenden Schulsysteme und die Konzentration der Lehrerausbildung an der Landesuniversität. Das Rückgrat seiner Reformpolitik stellten die in Ausführung der Schulartikel der Weimarer Reichsverfassung erlassenen und von den Ideen der Schulreform- und Einheitsschulbewegung inspirierten Thüringer Schulaufbau- und Lehrerbildungsgesetze 1922 dar. Greil wollte so seine Vision einer auf Bildung für alle Volksschichten beruhenden demokratischen Schule des Volkes nach dem Motto Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand verwirklichen und dafür an der Jenaer Universität ein auf die Fächer Pädagogik, Psychologie und Soziologie gestütztes Zentrum universitärer Lehrerausbildung für alle Schulformen schaffen. Darauf richtete er seine Berufungspolitik aus, die auf den heftigen Widerstand der Philosophischen Fakultät und schließlich auch der Universitätsleitung stieß.
Greils Reformprogramm berührte sich mit Petersens Konzepten für eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung, die Petersen ausdrücklich mit den Gedanken der Toleranz und der Humanität verknüpfte. Er pflegte in dieser Zeit rege Kontakte zu linksdemokratisch-sozialistischen Milieus. Dabei wirkten die Volks-, Volksschul-, Volkshochschul- und Volksgemeinschafts-Gedanken verbindend, die als deutungsoffene Kommunikationsformeln der Weimarer Zeit bis in die Linke hinein weit verbreitet waren.[5Externer Link] Sie können nicht unbesehen als völkische Vorläufer späteren NS-Denkens gedeutet werden. Petersens - mit der Metapher der Einheit im Volke verbundenen - Volksgemeinschafts-Ideen waren zu dieser Zeit mit spezifisch sozialistischen Vorstellungen sozialer Harmonisierung durch Bildung wie mit pazifistischen und internationalistischen Ideen verbunden und zudem von der Ideenwelt freichristlicher protestantischer Theologie überformt. Mit dem liberalen Theologen und Mitbegründer der Volkshochschule Thüringen Weinel verband ihn das Volkskirchen-Konzept. Weinels Frau Ada wirkte bei Petersen und schickte ihre Tochter in die reformpädagogisch umgestaltete Universitätsschule. Von ihnen stammen sehr warmherzige Beschreibungen dieser von vielen begeistert aufgenommenen, von konservativen Herbartianern und der Mehrheit der Thüringer Lehrerschaft aber strikt abgelehnten Schule. Petersens Ideen und sein Schulmodell fanden vor allem in Preußen Resonanz, wo der liberale Kultusminister Carl Heinrich Becker (1925/30) Pädagogische Akademien gründete und sein sozialdemokratischer Nachfolger Adolf Grimme (1930/32) die Gründung von Jenaplan-Schulen ermöglichte.
Die Reformära Greil endete in der Reichskrise Ende 1923. Ein Teil ihrer Projekte - darunter die Gründung einer eigenen Pädagogischen Fakultät - scheiterte oder wurde von der Ordnungsbund-Regierung revidiert. Seit 1927/28 übertrugen die Landesregierungen die Volksschullehrerausbildung von Petersens Erziehungswissenschaftlicher Anstalt auf ein neues Pädagogisches Institut. An dessen Spitze berief der Thüringer NS-Volksbildungsminister Wilhelm Frick 1930 den Herbartianer, Rein-Schwiegersohn und Petersen-Gegner Georg Weiss. Petersen selbst vollzog währenddessen - auch bedingt durch mehrere Auslandsreisen, biographische Einschnitte, die Trennung von seiner ersten Ehefrau und eine neue Ehe - einen deutlichen Wandel. Er arrangierte sich mit dem universitären Establishment. Seine Schule wandelte er von einer weltlichen Lebensgemeinschaftsschule im Geiste entschiedener Schulreformen in eine freikirchlich geprägte Bekenntnisschule um. Das verband sich mit der Erosion liberalen Denkens in seiner Erziehungslehre und seinen Schriften. Seit 1931 arbeitete er ein didaktisches Programm aus, das er Führungslehre nannte und 1937 erstmals veröffentlichte. Rege Kontakte entstanden zu Theodor Scheffers völkischer Deutscher Heimatschule in Bad Berka. 1932 trat Petersen dem Christlich-Sozialen Volksdienst bei, einer konservativen Splitterpartei, die Brünings Präsidialpolitik unterstützte. Der mit der "Zeitenwende" 1933 verbundene Bruch im Denken und Handeln Petersens und in der Sprache seiner Schriften bereitete sich also schon vor 1933 vor. Eine ungebrochene Kontinuitätslinie lässt sich aber nicht ziehen.
[1] Für diese Anlage sei v.a. auf den Abschnitt "Die Reform- und Konfliktperiode 1921-1924" (S. 316-364) des Weimar-Kapitels (John/Stutz) der Gesamtdarstellung "Traditionen-Brüche-Wandlungen. Die Universität Jena 1850-1995" (2009) verwiesen, auf Hein Retters Studien zur Pädagogik Peter Petersens "Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie" (2007) und auf das Statement Torsten Schwans vom 5. 10. 2009.
[2] Vgl. v.a. die ältere Studie von Herbert Döhring "Der Weimarer Kreis" (1974) und den von Wirsching/Eder hg. Sammelband "Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik" (2008).
[3] Diese Metapher wird in der neueren Literatur häufig verwendet - vgl. u.a. "1918. Aufbruch in die Weimarer Republik" (Zeit-Geschichte 3/2008); Reinhard Blomert "Intellektuelle im Aufbruch" (1999 über die Heidelberger Sozialwissenschaften); Jürgen John "'Land im Aufbruch'. Thüringer Demokratie- und Gestaltungspotenziale nach 1918" in dem von J.H. Ulbricht 2009 hg. Sammelband "Weimar 1919. Chancen einer Republik", S. 17-46; zur Kritik älterer pejorativer Sichtweisen vgl. den von Föllmer/Graf hg. Band "Die 'Krise' der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters" (2005).
[4] Andreas Flitner "Das pädagogische Jena" in dem von John /Ulbricht hg. Tagungsband "Jena - ein nationaler Erinnerungsort?" (2007), S. 139-146.
[5] Vgl. den in Anm. 19 der Argumentation genannten Titel von Wildt (2009).