Anlage 4: Petersen-Gedenken und Schulgründung 1990/91

In der Umbruchssituation des Herbstes 1989 formierte sich in Jena eine reformpädagogische Bewegung im Rahmen des "Neuen Forums". Kerngedanken waren die Erneuerung des Schulwesens, die Überwindung des DDR-Schulsystems, die konzeptionelle Abgrenzung von der autoritär ausgerichteten Einheitsschule der DDR und die Suche nach neuen Wegen integrativer Pädagogik jenseits des bundesdeutschen dreigliederigen Schulsystems, das von den "neuen Bundesländern" übernommen wurde. Aus dieser Bewegung entstand die Jenaer Gruppe "alternative Pädagogik", die seit Januar 1990 Informations- und Fortbildungsveranstaltungen für eine Erneuerung des Schulwesens organisierte. Die Lehrer und Eltern, die sich um diese Gruppe sammelten, knüpften an frühere reformpädagogische Ideen an und erstrebten die Gründung einer reformpädagogisch ausgerichteten staatlichen Schule. Sie waren fest entschlossen, ihre Vorstellungen von einer "guten Schule" zu verwirklichen, ohne dafür über fertige Konzepte zu verfügen. Doch lag es gerade in Jena nahe, auf das reformpädagogische Modell Peter Petersens zurückzugreifen, zumal dessen Schule 1950 aus politischen Gründen und weil sie nicht in das Einheitsschulsystem der DDR passte, geschlossen worden war. Daraus entstanden auch Kontakte zum Kreis ehemaliger Schüler der Universitätsschule und ein "Arbeitskreis Jenaplan-Pädagogik e.V.". Aus diesen Absichten und Ideen erwuchsen nach der Wahl der neuen Stadtverordnetenversammlung mehrere von ihrem Ausschuss Bildung und Wissenschaft (Leiterin: Gisela John) eingebrachte und vom neuen Schulamtsleiter Frank Schenker unterstützte Beschlussvorlagen für die Gründung einer reformpädagogischen Schule. Sie führten in Abstimmung mit dem neuen Kultusministerium und mit seiner Genehmigung schließlich im August 1991 zur Gründung der von Gisela John geleiteten Jenaplanschule als Versuchsschule des Freistaates Thüringen.

      Das war 1990 freilich nicht der einzige Rückgriff auf  Petersen und den Jenaplan. Auch die Erziehungswissenschaftler der Universität besannen sich nun auf diese von ihnen bis dahin weithin ausgeschlagene Tradition.[1]Externer Link Sie nutzten die mit dem Umbruch 1989/90 verbundene Renaissance reformpädagogischer Ideen und ihre Kontakte zur Giessener Jenaplan-Forschungsstelle seit 1988, um die neuen Initiativen zu dominieren, die 1950 geschlossene Universitätsschule unter ihrer Regie wieder zu gründen und so der drohenden Abwicklung zu entgehen. Im Oktober 1990 beantragte die Sektion Erziehungswissenschaft beim neuen Rektor Ernst Schmutzer "die Gründung bzw. Wiedererrichtung einer Universitätsschule an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zum 1. 9. 1991" und begründete dies ausdrücklich mit der unrechtmäßigen Schließung der Schule 1950 und mit der Notwendigkeit "innerer Schulreform", wofür sie sich offenbar berufen fühlten. Mehrere Aktionen flankierten diese "Wende-Operation". Der Kreis um die Professoren Horst Wenge und Paul Mitzenheim - zu DDR-Zeiten langjähriger Sektionsdirektor - organisierte eine mit  dem Treffen ehemaliger Lehrer und Schüler der Universitätsschule Ende September 1990 verbundene Petersen-Ehrung. Sie sah eine Gedenktafel an der ehemaligen Erziehungswissenschaftlichen Anstalt, den Besuch der früheren Universitätsschule und einen Festakt in der Universitätsaula vor. Außerdem bereiteten sie einen 1991 publizierten Sammelband "Reformpädagogik in Jena" vor. Das Vorgehen der von Abwicklung bedrohten Jenaer Erziehungswissenschaftler löste freilich den Protest der aus der Bürgerrechts-Bewegung vom Herbst 1989 hervorgegangenen reformpädagogischen Basisgruppe und der ihr angehörenden Leiterin des Bildungsausschusses aus. In dessen Beschlussvorlage vom 14. Dezember 1990 schlug sich das in dem - auf Verlangen eines Ausschussmitgliedes als zu weitgehend dann wieder gestrichenen - Satz nieder, dass eine neue Schule nur in einer basisdemokratischen Konstellation gegründet werden könne. Die diskreditierten pädagogischen Einrichtungen und Wissenschaftler der Universität seien dazu nicht in der Lage.

     Die neue Universitätsleitung ging ebenfalls auf deutliche Distanz zu diesen Aktionen der Sektion Erziehungswissenschaft. Der Prorektor Gottfried Meinhold, der in Vertretung des Rektors das Grußwort bei der Petersen-Ehrung am 29. September 1990 in der Universitätsaula hielt, würdigte nicht nur Petersens Werk und Leistung. Er wandte sich auch ganz entschieden gegen die "hiesige Erziehungswissenschaft", ihre Schuld und "Mittäterschaft" bei der Produktion und Rechtfertigung von Feindbildern und betonte ausdrücklich, Petersen sei "kein Helfer bei der hektischen Flucht nach vorn, die jetzt allenthalben bei uns um sich greift, um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen". Spätestens im Januar 1991 war klar, dass der Vorstoß der seit Dezember 1990 in Abwicklung befindlichen Sektion Erziehungswissenschaft gescheitert war. Die Universitätsleitung unterstützte die mit dem Treffen ehemaliger Lehrer und Schüler der Universitätsschule verbundene Petersen-Ehrung in der Absicht, so zur gesellschaftlichen und schulischen Erneuerung beizutragen. Fatalerweise geschah das in Unkenntnis bzw. falscher Einschätzung der NS-Zeit Petersens. Das lag am Konzept der Vorbereiter dieses Petersen-Gedenkens und an dem von Mitzenheim vorgeschlagenen Festredner Theo Dietrich (Bayreuth), dessen in der Bundesrepublik erschienenen apologetischen Arbeiten Petersens NS-Nähe nicht nur verdrängten, sondern seine Rolle zu der eines Opfers und Widerstandskämpfers gegen das NS-Regime umdeuteten. Von ihm und seinem Umfeld waren keine Hinweise auf die in der Bundesrepublik schon längere Zeit geführte Debatte um die Rolle Petersens in der NS-Zeit und um seine NS-nahen Schriften zu erwarten.

     Im Schatten dieser Konstellation und mit Blick auf die sich abzeichnende Schulgründung dürfte 1990 der Vorschlag entstanden sein, den Karl-Marx-Platz in Petersen-Platz umzubenennen, was dann zum 1. April 1991 geschah. Dieser Vorschlag durchlief den Sonderausschuss Straßennamen/Ehrenbürger (Leiter: Albrecht Schröter) des Stadtparlamentes, der mehr als 100 Namen zu überprüfen hatte. Er gab sich größte Mühe, fair und nicht "bilderstürmend" vorzugehen. Aber er stand unter Zeitdruck und schlug der Stadtverordnetenversammlung sehr bald vor, die Namen von 57 Straßen und Plätzen Jenas zu ändern. Für genauere Einzelfallprüfungen blieb wenig Zeit. Die Stadträte ließen sich bei der Auswahl neuer Namen von einer Prioritätenliste leiten. Auf ihr stand an dritter Position eine Gruppe von vorgeschlagenen Namen bedeutender und allgemein anerkannter Jenaer Persönlichkeiten aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Petersens Name gehörte zu dieser Kategorie. Das Petersen-Gedenken an der Universität und die Renaissance der Jenaplanpädagogik sprachen dafür. Von dem Sonderausschuss konnte nicht erwartet werden, dass er sich die Frage nach einer möglichen NS-Nähe Petersens vorlegte.

     Anders sah es zur gleichen Zeit bei dem Kreis der Schulgründer aus. Sie begannen, sich genauer mit Petersens Ideen und seiner Biographie zu beschäftigen und stießen dabei auch auf die bundesdeutschen Debatten um Petersens NS-Nähe. Und sie wurden sich zunehmend der Tücken und der Problematik seiner Begriffswelt und Erziehungslehren bewusst. Ohnehin wollten sie keine Petersen-Orthodoxie, sondern den Jenaplan der 1920er Jahre für ihre eigenen Ideen und Visionen einer "neuen Schule" nutzen. Deshalb wählten sie den Namen Jenaplanschule und nicht Petersens Namen. Am 2. September 1991 begann diese neue Schule mit dem Unterricht. Der Festakt zu ihrer Eröffnung fand am 21. Oktober 1991 in der Universitätsaula mit dem Festvortrag von Hans Rauschenberger (Kassel) zum Thema "Bildungsreform" statt, an dem auch der Kreis ehemaliger Lehrer und Schüler der Universitätsschule teilnahm. Ansprachen hielten unter anderem die Kultusministerin Christine Lieberknecht, der Schulamtsleiter Frank Schenker und der Bürgermeister Dietmar Haroske, der bei dieser Gelegenheit im Auftrag der Stadt und des Ministeriums den Petersen-Mitarbeiter und letzten Schulleiter der Universitätsschule Hans Mieskes offiziell für das an ihm in der DDR begangene Unrecht politisch rehabilitierte.[2]Externer Link Das geschah in Unkenntnis von Mieskes Wirken 1941/45 an der als "Reichsuniversität" im besetzten "Protektorat Böhmen und Mähren" geführten "Deutschen Karls-Universität" in Prag.[3]Externer Link

 

 

[1]Externer Link Wenn man von einem Kolloquium der Sektion Erziehungswissenchaft zum 100. Geburtstag Petersens 1984 absieht, auf dem sich drei Beiträge mit Biographie, Unterricht und Forschungsmethoden Petersens befassten; in der Lehrtätigkeit der Sektion Erziehungswissenschaft spielten Petersen und die Jenaplan-Pädagogik weder in aktuellen Bezügen noch bei der Behandlung der Geschichte der Erziehungswissenschaft eine Rolle.

[2]Externer Link Den Rehabilitierungsantrag stellte Dr. Horst Emden (Weilburg) im Januar 1991 beim Thüringer Ministerium für Wissenschaft und Kunst mit Verweis auf Mieskes "unbeugsame Haltung gegenüber dem Kommunismus", die zum "permanenten Konflikt mit den Sympathisanten des Systems" geführt habe;  Mieskes war seit 1945 als Mitarbeiter Petersens, seit 1947 als a.o. Professor an der Jenaer Universität tätig und musste als letzter Schulleiter 1950 die Auflösung der Universitätsschule durchführen; 1956 floh er aus der DDR; von 1961 bis zu seiner Emeritierung war Mieskes Professor und Direktor des erziehungswissenschaftlichen Seminars und des Instituts für pädagogische Forschung an der Universität Gießen.

[3]Externer Link Mieskes war dort als Assistent am 1942 errichteten Institut für europäische Völkerkunde und Völkerpsychologie der Reinhard-Heydrich-Stiftung tätig, das nach Auffassung des Sicherheitsdienstes der SS die "völkerpsychologische" und "rassenanthropologische" Grundlagenforschung für die Germanisierungspolitik in den besetzten ost- und südosteuropäischen Gebieten übernehmen sollte. Welche Rolle der in Siebenbürger geborene Mieskes in diesem Forschungsverbund spielte, ist bis heute ungeklärt.