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Newsletter Lehre 01 2022
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Sechs Fragen an Dr. Astrid Wendel-Hansen zum Thema Lernen und Lehren in Schweden

Dr. Astrid Wendel-Hansen
Dr. Astrid Wendel-Hansen
Foto: Dr. Astrid Wendel-Hansen

Dr. Astrid Wendel-Hansen forschte und lehrte während ihrer Promotionszeit an der Universität Uppsala, war Gastforscherin an der Harvard University und Universität Kopenhagen. Im Anschluss an ihre Promotion erhielt sie einen Lehrauftrag an der Universität Stockholm. Seit August 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Das Schwedische Bildungssystem genießt weltweit ein hohes Ansehen, nicht zuletzt, weil der Staat sein Bildungssystem finanziell sehr gut ausstattet.  Bereits im Schulalter erwerben die Schüler und Schülerinnen andere Kompetenzen als an Schulen in Deutschland. Wie werden die Unterschiede bei den Voraussetzungen, die Studienanfängerinnen und -anfänger mitbringen, sichtbar?

Die 1990er Jahre waren durch eine Reihe von Veränderungen im Schwedischen Schulwesen geprägt, welche darauf abzielten, die Kosteneffizienz, die individuellen Wahlmöglichkeiten und den Wettbewerb auf dem Schulmarkt zu erhöhen. Der durchschnittliche Bildungserfolg der schwedischen Schüler und Schülerinnen, der in großen internationalen Tests wie PISA und TIMSS gemessen wird, ist den Zielen entgegen seit den 1990er Jahren deutlich zurückgegangen, was in den letzten Jahren die Debatte über den Erfolg der Bildungsreformen neu entfacht hat. Da es keine Mindestanforderungen an die für das Bildungswesen vorgesehenen Mittel gibt, verteilen die einzelnen Gemeinden ihre Ressourcen unterschiedlich, was bedeutet, dass es auf lokaler Ebene beträchtliche Unterschiede in der Qualität der Bildung geben kann. Außerdem herrscht in Schweden ein akuter Lehrermangel, da bis zu 30 % der Grundschullehrer und -lehrerinnen nicht über eine entsprechende Qualifikation verfügen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das schwedische Bildungssystem vor ernsthaften Herausforderungen steht, die es zu bewältigen gilt, wenn es wettbewerbsfähig bleiben soll.

Dennoch gilt die Hochschulbildung in Schweden als eine der besten der Welt, und mindestens sechs Universitäten gehören regelmäßig zu den 200 besten der Welt. Die Hochschulbildung ist in Schweden allgemein zugänglich und der gleichberechtigte Zugang ist ein zentraler Bestandteil des Hochschulsystems. Studierende jeder Herkunft sind willkommen, unabhängig von Geschlecht, Religion, Heimatland oder sozioökonomischem Hintergrund. An den schwedischen Universitäten und Hochschulen gibt es keine Altersgrenze, so dass der Zugang zur Hochschulbildung ein Leben lang möglich ist. Die Hochschulbildung in Schweden wird größtenteils aus Steuermitteln finanziert, und die Studiengebühren werden für Studierende aus Schweden, dem EU/EWR-Raum und der Schweiz vollständig subventioniert.

Ich habe den Eindruck, dass die Schüler und Schülerinnen in Deutschland viel zögerlicher sind, was ihre Sprachkenntnisse angeht - zum Beispiel, wenn es darum geht, englischsprachige Literatur zu lesen und zu diskutieren. In Schweden werden Kinder von klein auf mit Fremdsprachen konfrontiert, und die meisten Schüler und Schülerinnen lernen in der Schule zwei Fremdsprachen. Englisch ist eine Voraussetzung für viele Bachelor-Studiengänge in den Geisteswissenschaften, auch wenn der Studiengang auf Schwedisch unterrichtet wird. Im Rahmen ihrer Internationalisierungsbestrebungen bietet die Universität Uppsala derzeit 125 verschiedene Masterstudiengänge in englischer Sprache an, von Ästhetik bis hin zu theoretischer und computergestützter Chemie. Im Guten wie im Schlechten ist Englisch in der schwedischen Gesellschaft und im Hochschulwesen allgegenwärtig, so dass es für Studierende, die die Universität betreten, ein selbstverständlicher Teil ihrer täglichen Interaktion mit Lehrkräften und Mitstudierenden ist. Ich persönlich bin der Meinung, dass Fremdsprachen, zumindest eine von ihnen, ein zentraler Bestandteil der geisteswissenschaftlichen Lehrpläne auf Universitätsebene sein sollten. Für Historiker und Historikrinne wie mich sind Fremdsprachenkenntnisse ein großer Gewinn für die Forschung und die Teilnahme an der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Können Sie Unterschiede in der Gestaltung von Lernprozessen an den Universitäten, an denen Sie bisher Erfahrungen gesammelt haben, erkennen? Was hat Sie überrascht, als Sie begonnen haben, in Deutschland mit Studierenden zu arbeiten? Lernen Studierende verschiedener Nationalitäten unterschiedlich?

Auf der strukturellen Ebene hat mich am meisten überrascht, dass die Hochschullehrer und -lehrerinnen in Deutschland viel mehr Flexibilität bei der Gestaltung ihrer eigenen Lehrveranstaltungen haben, einschließlich der Entscheidung, welche zentralen Themen und welche Literatur in der Lehrveranstaltung behandelt werden sollen. Für mich war das am Anfang definitiv eine der größten Herausforderungen, denn es gibt den Lehrenden zwar Freiheit und die Möglichkeit, ihre Lehr- und Forschungsinteressen stärker aufeinander abzustimmen, aber ich habe auch das Gefühl, dass es dem einzelnen Lehrenden viel mehr Verantwortung auferlegt. In Schweden ist das System viel starrer, denn die Lehrpläne werden vom Fachbereichsrat genehmigt und geändert. Das bedeutet, dass ich als Lehrkraft bereits von Anfang an weiß, welchen Kurs ich unterrichten werde und welche Themen und Literatur in den einzelnen Seminaren behandelt werden, obwohl ich frei entscheiden kann, wie ich die Diskussion und den Gedankenaustausch gestalten möchte (zum Beispiel durch Gruppenarbeit, mündliche Präsentationen oder einen schriftlichen Bericht). In Schweden sind an den Kursen für Studierende in der Regel mehrere Lehrkräfte beteiligt, was bedeutet, dass der Unterricht eine Gruppenarbeit ist und die besten Modelle/Lehransätze idealerweise aus der Interaktion und dem Austausch von Erfahrungen entstehen. Für mich als neue und unerfahrene Lehrkraft war dies ein guter Einstieg in die Hochschulpädagogik, und es gab mir ein Gefühl der Sicherheit, mich auf das Fachwissen erfahrenerer Kollegen verlassen zu können.

Ich glaube jedoch nicht, dass es grundlegende Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Studierende in Deutschland und Schweden lernen, zumindest nicht auf der Ebene des Grundstudiums. In Geschichte basiert ein Großteil des Lernens auf Vorlesungen und Seminaren (Lektüre und Diskussion von wissenschaftlicher Literatur und Quellenmaterial) sowie auf der eigenständigen Erstellung von Seminararbeiten.

Didaktische Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein wichtiges Element, um die Qualität der Lehre zu fördern. Wie wird das in Schweden gestaltet?

Ich würde sagen, dass im Vergleich zu vor einigen Jahrzehnten eine formale Lehrbefähigung an schwedischen Hochschuleinrichtungen zur Norm und zu einer Erwartung geworden ist. Die meisten Universitäten haben ein spezielles Zentrum wie die Servicestelle LehreLernen an der Universität Jena, das Kurse in Didaktik und Lehrentwicklung anbietet und universitätsweite Didaktikkonferenzen und Workshops organisiert. Heutzutage erfordern die meisten akademischen Positionen, die potenziell Lehrtätigkeit und Interaktion mit Studierenden beinhalten - selbst zeitlich befristete Lehraufträge wie der, den ich in Stockholm innehatte - zumindest den Abschluss einer grundlegenden Lehrausbildung. Während meiner Promotion in Uppsala nahm ich an einem fünfwöchigen Kurs für akademische Lehrkräfte teil. Der Kurs umfasste die Planung und Durchführung eines individuellen Lehrauftrags und einen anschließenden schriftlichen Bericht. Zu diesem Zweck organisierte ich zusammen mit einem Kollegen einen Workshop, in dem wir uns mit der Rekonstruktion als Lernmethode beschäftigten. Gemeinsam mit Masterstudierenden stellten wir ein Obergewand aus dem 16. Jahrhundert nach einem österreichischen Schneiderbuch nach. Außerdem wurde mir ein Mentor zugeteilt, der ein von mir geleitetes Seminar beobachtete. Danach hatten wir ein Nachbereitungstreffen, bei dem wir besprachen, was gut lief und was ich hätte anders machen können. An der Universität Stockholm hatte ich die Möglichkeit, einen Fortgeschrittenenkurs mit dem Titel "Teaching and Learning in the Human Science Academic Area" zu belegen, der sich speziell auf das Unterrichten in den Geistes- und Sozialwissenschaften konzentrierte. Nachdem ich mich nach meinem ersten Semester hier in Jena eingelebt habe, habe ich mich auch für einige Kurse bei LehreLernen angemeldet, darunter einen Kurs über digitale Werkzeuge für interaktives Lernen. Ich muss sagen, dass die Auswahl an Kursen beeindruckend ist!

Mit der Akademie für Lehrentwicklung hat die Universität Jena eine Einrichtung geschaffen, die den Stellenwert der Lehre hervorhebt. Sie setzt Anreize für die Entwicklung innovativer Lehrkonzepte und engagiert sich dafür, dass Leistungen in der universitären Lehre anerkannt und sichtbar werden. Gibt es ähnliche Einrichtungen an schwedischen Universitäten und wie steht es dort allgemein um die Wertschätzung von Lehre?

Als relativ neue Lehrkraft mit weniger als fünf Jahren Lehrerfahrung habe ich oft gedacht, dass wir nicht genug über das Lehren reden, vor allem, wenn man bedenkt, wie wichtig dieser Teil unserer Arbeit ist! Ich höre immer mit großem Interesse den Erfahrungen anderer Hochschullehrer und -lehrerinnen zu, weil ich das Gefühl habe, dass ich so viel von ihnen lernen kann, von den Herausforderungen, denen sie sich gestellt haben, und von den schwierigen Situationen, die sie gemeistert haben. Der Austausch über die Lehre ist nicht nur deshalb wichtig, weil er die Möglichkeit bietet, Lösungen an vielleicht unerwarteten Stellen zu finden, sondern auch, weil er uns bestätigt, dass die Lehre im Kern eine Gemeinschaftsaufgabe ist und dass wir mit unseren Bemühungen nicht allein sind.

In Schweden werden herausragende Lehrleistungen in der Regel von den einzelnen Universitäten anerkannt. Sowohl in Uppsala als auch in Stockholm können Studierende und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Universitäten Lehrende, die sie als besonders motivierend und inspirierend empfinden, für einen jährlichen Preis für gute Lehre vorschlagen. Darüber hinaus haben mehrere schwedische Universitäten im letzten Jahrzehnt universitätsweite Anerkennungssysteme für pädagogische Verdienste eingeführt. Lehrende aller Fakultäten der Universität Uppsala, die ihre Lehrbefugnis (in Schweden: tenure) erhalten haben, können sich um die Auszeichnung ‚Exzellente Lehrperson‘ bewerben. Die Bewerbung, die von mehreren Fachleuten bewertet wird, sollte ein breites Spektrum an pädagogischen Fähigkeiten und eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Lehrtätigkeit nachweisen. Von den Kandidatinnen und Kandidaten wird erwartet, dass sie in ihren jeweiligen Fachbereichen und Fakultäten eine Führungsrolle übernehmen, insbesondere bei Aktivitäten im Zusammenhang mit der Lehre und der Lehrentwicklung. Diese Anerkennung ist eine Gelegenheit für die Universität, besonders begabte und pädagogisch reflektierte Lehrkräfte zu würdigen und auf sie aufmerksam zu machen. Oftmals ist die Auszeichnung auch mit einer finanziellen Zulage verbunden.

Leider gibt es weder in Stockholm noch in Uppsala einen vergleichbaren Rahmen wie den der Akademie für Lehrentwicklung. Die Sicherung der Qualität und Weiterentwicklung der Lehre ist zwar ein universitätsweites Ziel, aber die meisten Diskussionen und strategischen Aktivitäten finden nach wie vor innerhalb der einzelnen Fakultäten statt. Dieses Problem wurde erst im letzten Jahr von der Regierung erkannt, und nun werden auf nationaler Ebene Anstrengungen unternommen, um die Vernetzung der schwedischen Hochschulen zu verbessern und den Austausch von Ideen und gelungenen Lehrmodellen zu erleichtern.

Evaluationen sind ein wichtiges Feedbackinstrument, welches Lehrende nutzen können, um ihre Lehrveranstaltungen kritisch zu reflektieren und zu verbessern. Erkennen Sie aus Ihren Erfahrungen heraus Unterschiede in der Evaluationskultur der Lehrenden in Schweden und in Deutschland?

Meiner Meinung nach gibt es keine großen Unterschiede zwischen der schwedischen und der deutschen Evaluierungspraxis, da Feedback auch an schwedischen Universitäten ein wichtiger Bestandteil der Lehre ist. Theoretisch ist die Evaluation ein wichtiger Teil der Qualitätsentwicklung der Lehre, aber es gibt auch einige wiederkehrende Probleme, wie die geringen Antwortrückläufe und die Schwierigkeit zu entscheiden, wie das Feedback praktisch umgesetzt werden kann, um die Lehre des nächsten Semesters zu verbessern. Anders als in Jena entwerfen die Lehrenden in Uppsala und Stockholm ihre eigenen Evaluationsbögen, obwohl die meisten Fachbereiche auch Evaluationsvorlagen entwickelt haben. Was ich an der FSU Jena absolut fantastisch finde, ist, dass ich als Lehrender mein eigenes Evaluationsformular ausfüllen kann und dass sowohl meine Antworten als auch die der Studierenden auf dem automatisch generierten Evaluationsbericht verglichen werden. Es ist eine tolle visuelle Erinnerung daran, dass wir als Lehrende vielleicht dazu neigen, die Dinge negativer zu sehen als die Studierenden, und dass sie oft sehr zufrieden mit den Kursen sind.

Welchen Rat würden Sie anderen Lehrenden mitgeben, die gerne etwas mehr des Schwedischen Bildungsgedankens ‚freedom with responsibility‘ in ihren Lehralltag einbringen möchten?

Kurz gesagt, "Freiheit mit Verantwortung" bedeutet, dass ein großer Teil des Lernprozesses außerhalb des Seminarraums stattfindet, wobei die Studierenden ihr Studium hauptsächlich allein oder in Gruppen betreiben. Von den Studierenden in Schweden wird erwartet, dass sie die volle Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen, dass sie die Dinge selbst herausfinden und dass sie nicht nur in ihren Lehrbüchern nach Antworten suchen. Das Infragestellen des Status quo beschränkt sich jedoch nicht auf die Kursarbeit. Studierendenvertreter und -vertreterinnen sind in der Regel an den verschiedenen Gremien und Ausschüssen der Universität beteiligt und machen gern von ihrem Recht Gebrauch, auf alles, was mit ihrer Ausbildung zu tun hat, Einfluss zu nehmen. Dies kann sich auf den Inhalt und die Struktur ihres Studiengangs oder auf ihr Studienumfeld beziehen.

Ich habe versucht, meinen Studierenden von Anfang an klar zu machen, dass die Hochschulen nicht so funktionieren sollten wie die Primar- oder Sekundarschule, wo die Lehrer und Lehrerinnen den Schülern und Schülerinnen Wissen vermitteln und sie es im Allgemeinen für richtig annehmen. Meine Aufgabe besteht in erster Linie darin, den Studierenden das Lernen zu erleichtern, indem ich ihnen provokante Fragen stelle, sie auffordere, ihre eigenen Fragen zu stellen, und sie ermutige, ihre eigenen Antworten zu finden. Eine Methode, die Studierende dazu ermutigt, miteinander zu interagieren, von ihren Mitstudierenden zu lernen und komplexe Probleme im Team zu lösen, ist die Gruppenarbeit. Diese Methode eignet sich sehr gut für das Fach Geschichte und andere geisteswissenschaftliche Fächer, da sie es den Studierenden ermöglicht, ihre Ideen zu bündeln und ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Außerdem fördert sie die Entwicklung anderer wichtiger Fähigkeiten wie Organisieren und Delegieren, effektive Kommunikation und Kooperation. Und schließlich ermutigt Gruppenarbeit die Studierenden, auf einer persönlichen Ebene aufeinander zuzugehen und miteinander zu kommunizieren, was gerade in Zeiten der Pandemie absolut wichtig ist, um die Studierenden daran zu erinnern, dass die Universität vor allem eine Gemeinschaft des Lernens ist und dass sie dabei nicht allein sind!

Anstatt Ratschläge zu erteilen, möchte ich meine Kollegen und Kolleginnen in Jena herausfordern. Wie können wir, inspiriert durch den Ansatz "Freiheit mit Verantwortung", ein akademisches Umfeld schaffen, das die Studierenden dazu ermutigt, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen und sich kritisch mit den Informationen auseinanderzusetzen, die sie erhalten? Wie können wir die Studierenden zu Offenheit, Neugier und kritischem Denken anregen, so dass sie für das Leben und nicht nur für den Beruf lernen?