Die Projektleiter Iwan Schie, Patrick Bräutigam und Hans Proquitté (v. l.) hinter einem Inkubator.

Frühgeborenen bessere Chancen im Leben geben

Jenaer Kooperationsprojekt „INTACT“ entwickelt neuen Therapieansatz und innovative Diagnostik für Frühgeborene mit Darmerkrankungen
Die Projektleiter Iwan Schie, Patrick Bräutigam und Hans Proquitté (v. l.) hinter einem Inkubator.
Foto: Jens Meyer (Universität Jena)
  • Forschung

Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein

3D-Modell einer Mikropumpe, wie sie im Projekt entwickelt werden soll.

Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

In Deutschland müssen Ärztinnen und Ärzte bei etwa 200 von 800 sehr unreifen Frühgeborenen jährlich – meist wegen einer Infektion – die Nahrung durch einen künstlichen Darmausgang aus- und an anderer Stelle wieder zurückleiten, um den Darm zu entlasten. Aktuell funktioniert das nur manuell, was keine kontinuierliche Überführung garantiert, sehr pflegeintensiv ist und die Entwicklung der Babys beeinträchtigt. 

Ein interdisziplinäres Team von Friedrich-Schiller-Universität, Universitätsklinikum Jena (UKJ) und koordiniert durch die Ernst-Abbe-Hochschule Jena (EAH) will deshalb nun ein miniaturisiertes Transportsystem mit ultraschall- und photonikbasierter Sensorik entwi­ckeln, das die kontinuierliche Überführung und Analytik des ausgeleiteten Darminhalts ermöglicht. Damit wollen die Forschenden erstmals einen geregelten kontinuierlichen externen Transport des Darminhaltes ermöglichen und gleichzeitig dessen Zusammen­setzung in Echtzeit erfassen. So entsteht eine völlig neue Datenbasis, die bessere medi­zinische Behandlungsmöglichkeiten für Frühgeborene zulässt. Die Carl-Zeiss-Stiftung fördert das Projekt „INTACT“ für zwei Jahre mit insgesamt 750.000 Euro. 

Bei manchen Frühgeborenen unter 1.500 Gramm Gewicht schwächt eine Entzündung den noch sehr kleinen und unreifen Darm, behindert die Passage des Inhalts und lässt ihn mitunter sogar perforieren“, beschreibt Prof. Dr. Hans Proquitté, Leiter der Neonatologie am Universitätsklinikum Jena, das medizinische Problem, das ihn inzwischen seit 30 Jahren umtreibt. „Antibiotika helfen, die Infektion zu bekämpfen – meist zwei künstliche Darmausgänge, sogenannte Stomata, müssen zur Entlastung des Darmes angelegt werden.“ Der Chymus – also der bereits mit Verdauungssekreten durchsetzte Speisebrei – wird bisher über Stunden in einem Beutel gesammelt und anschließend wieder mit einer Spritze in das zweite, weiterführende Stoma in den Darm zurückgeführt. So verkümmert dieser Bereich des Darms nicht und das Kind erhält weiterhin wichtige Nährstoffe, wie Kalzium, Bicarbonat, Eiweiße, Lipide und Kohlenhydrate aus der Nahrung. Die Überführung des Chymus ist zwar äußerst wichtig für die umfassende Entwicklung des Kindes, der derzeit nur manuell umsetzbare Ablauf hält aber einige Probleme bereit: „Weil wir bisher keinen kontinuierlichen Transfer außerhalb des Körpers gewährleisten können, wird der Verdauungsprozess für längere Zeit unterbrochen. Zum anderen reizt der angeklebte Plastikbeutel die Haut zum Teil sehr ausgeprägt und in Folge können Infektionen entstehen“, sagt der Mediziner.  

Pumpsystem so groß wie eine Streichholzschachtel

Der Arzt entwickelt deshalb nun gemeinsam mit dem Medizintechniker Prof. Dr. Iwan Schie von der EAH und dem Umweltchemiker Dr. Patrick Bräutigam von der Universität Jena ein miniaturisiertes, geregeltes Transportsystem, das beide Darmbereiche außerhalb des Körpers miteinander verbindet und so kontinuierlich und damit physiologisch den Darmin­halt überträgt. „Dieser Therapieansatz ist völlig neu und könnte den kleinen Patienten das Wachsen und Gedeihen in dieser kritischen Phase deutlich erleichtern. Dafür planen wir, ein 3D-gedrucktes miniaturisiertes Pumpendesign zu entwickeln, das maximal 50 Gramm leicht und nicht viel größer als eine Streichholzschachtel ist“, erklärt Patrick Bräutigam. „Mit Hilfe der kontaktlosen Ultraschallspektroskopie, durch die das System eigenständig erkennt, wann der Chymus in den Schlauch gelangt und mit welcher Geschwindigkeit er weitergeleitet wird, regeln wir dann die Pumpe.“ Darüber hinaus lassen sich mit dem Ultraschall weitere Informationen beispielsweise über die Viskosität, Wasser- und Fest­stoffanteile messen. Um während der Forschung an dem Gerät eine so lebensnahe Umgebung wie möglich zu schaffen, entwickelt der Jenaer Umweltchemiker eine spezielle Simulanz, die dem Speisebrei in Beschaffenheit und Inhaltsstoffen gleichkommt, aber in größeren Mengen zur Verfügung steht. 

Diagnostik da, wo sie vorher nicht möglich war

Eine weitere Neuerung soll zudem der Zugang zu Informationen sein, die bisher so nicht zur Verfügung stehen. „Wir wollen den Chymus mit multimodalen spektroskopischen Analyseverfahren wie etwa der UV/VIS/IR-Absorptionsspektroskopie durchleuchten und dabei eine ganz neue Datenbasis über die chemische Zusammensetzung aufbauen. Denn bisher gibt es keine Möglichkeit, den gesamten Chymus in Echtzeit zu untersuchen und seine Komposition zu ermitteln“, sagt Iwan Schie. „So wollen wir beispielsweise den Was­sergehalt des Chymus bestimmen, Lipide und Proteine detektieren und vielleicht sogar DNA-Reste oder Mikroblutungen erkennen.“ Solche Daten lieferten Informationen darüber, wie die kleinen Patienten Nährstoffe verwerten und welche sie besonders benötigen oder ob interne Verletzungen aufgetreten sind. Das lasse Aussagen zum Gesundheitszustand zu, was zielgenaue Therapieoptionen nach sich ziehen kann – Diagnostik wird also an einer bisher nicht zugänglichen Stelle möglich. „Die kontinuierliche Beobachtung solcher Entwicklungsparameter wird uns dabei helfen, auch im Falle einer solchen Beeinträchti­gung das kindliche Wachstum zu fördern und die spätere Rückverlagerung des Darms zu vereinfachen“, sagt Hans Proquitté.

Iwan Schie und sein Team, zu dem auch Studierende gehören werden, wollen für das Analysemodul zunächst die geeignetsten Spektroskopieverfahren ermitteln. Im nächsten Schritt gilt es, diese dann in ein Gesamtsystem zu integrieren. Das Forschertrio ist optimistisch, bis zum Ende des Förderzeitraums einen ersten Prototypen vorlegen zu können, der dann mit einem Partner aus der Wirtschaft oder vielleicht sogar durch eine Ausgründung zur Marktreife geführt werden kann. 

Über die Carl-Zeiss-Stiftung

Die Carl-Zeiss-Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, Freiräume für wissenschaftliche Durch­brüche zu schaffen. Als Partner exzellenter Wissenschaft unterstützt sie sowohl Grundla­genforschung als auch anwendungsorientierte Forschung und Lehre in den MINT-Fach­bereichen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). 1889 von dem Physiker und Mathematiker Ernst Abbe gegründet, ist die Carl-Zeiss-Stiftung eine der ältesten und größten privaten wissenschaftsfördernden Stiftungen in Deutschland. Sie ist alleinige Eigentümerin der Carl Zeiss AG und SCHOTT AG. Ihre Projekte werden aus den Dividendenausschüttungen der beiden Stiftungsunternehmen finanziert.

Kontakt (an der Universität):

Patrick Bräutigam, Dr.
Leiter AG Advanced water technology
vCard
Lehrstuhl Technische Umweltchemie
Raum 302, CEEC
Philosophenweg 7a
07743 Jena Google Maps – LageplanExterner Link