Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat ihr aktuelles Jahresgutachten an Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger übergeben.

Zeitenwende in der Innovationspolitik notwendig

Expertenkommission Forschung und Innovation unter Vorsitz von Prof. Dr. Uwe Cantner legt Jahresgutachten vor
Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat ihr aktuelles Jahresgutachten an Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesministerin Bettina Stark-Watzinger übergeben.
Foto: David Ausserhofer
  • Wissenstransfer & Innovation

Meldung vom: | Verfasser/in: EFI/Sebastian Hollstein

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hat an diesem Mittwoch ihr Jahresgutachten an Bundeskanzler Olaf Scholz überreicht. Sie warnt davor, trotz der aktuellen Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg, die Bewältigung weiterer gesellschaftlicher Herausforderungen, vor allem der großen Transformationen – wie Dekarbonisierung und Digitalisierung –, zu vernachlässigen. Hierbei sei die Bundesregierung, trotz der gerade erst verabschiedeten Zukunftsstrategie Forschung und Innovation, erstaunlich wenig vorangekommen. Ein Grund dafür sei die schlechte Verzahnung der aktuellen innovations- und transformationsbezogenen Fachpolitiken und Strategien der unterschiedlichen Ressorts. Statt Kooperation zwischen den Bundesministerien scheine nach wie vor das alte „Silodenken“ zu dominieren. Um Fortschritte zu erzielen, bedürfe es dringend eines neuen, agilen Politikstils und einer dazu passenden Governance-Struktur. „Auch in der Innovationspolitik ist eine Zeitenwende notwendig! Nur auf diese Weise wird sich in Wirtschaft und Gesellschaft eine Aufbruchsstimmung erzeugen lassen, die für die Umsetzung der Transformationen enorm wichtig ist“, so der Vorsitzende der Expertenkommission, Prof. Dr. Uwe Cantner von der Universität Jena. „Ein Weiter-wie-bisher bei der Politikkoordination kann sich Deutschland weder in zeitlicher noch in finanzieller Hinsicht leisten.“ 

Zukunftsausschuss einrichten

Die EFI empfiehlt deshalb die Einrichtung eines ständigen Zukunftsausschusses, um die Ziele zu innovations- sowie transformationsbezogenen Themen abzustimmen sowie einschlägige Strategien – etwa die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation, die Digitalstrategie und die Start-up-Strategie – festzulegen und zu koordinieren. Der Ausschuss sollte im Bundeskanzleramt verankert werden und sich vor allem aus den Ministerinnen und Ministern zusammensetzen, deren Ressorts am intensivsten mit innovations- und transformationsbezogenen Fragestellungen befasst sind. Um eine hohe Verbindlichkeit zu schaffen, sollte das Gremium dem Bundeskabinett sowie dem Deutschen Bundestag regelmäßig Rechenschaft ablegen. Die im Ausschuss festgelegten Strategien würden an die Ressorts bzw. ressortübergreifende Teams übergeben und dort über Roadmaps, Meilensteine und fortlaufende Evaluationen in die Umsetzung gebracht.

Reform der Rahmenbedingungen gefordert

Außerdem mahnt die EFI Reformen der Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation an. Die Dringlichkeit ihrer Empfehlungen sieht sie beispielsweise durch die Entscheidung des Unternehmens BioNTech bestätigt, seine Krebsforschungsaktivitäten stark auszubauen – und zwar in Großbritannien. „Die Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation sind in Teilen nicht mehr zeitgemäß. Der Fall BioNTech legt bei uns bestehende Defizite auf schmerzhafte Weise offen. Wenn Deutschland als Standort für zukunftsweisende Schlüsseltechnologien in der ersten Liga spielen will, muss hier schnell und grundlegend nachgebessert werden“, mahnt der Vorsitzende der Expertenkommission Uwe Cantner.

Dabei gehe es vordergründig nicht um Fördermittel, medizinische Infrastruktur und Kompetenzen, sondern vielmehr um eine defizitäre Digitalisierung und damit verbundene sowie schleppende administrative Verfahren, kleinteilige Regulierungsvorgaben, die Datenerhebungen und -nutzungen erschweren und innovative Verfahren ausbremsen oder verhindern. Das betreffe nicht nur den Pharmabereich, sondern auch andere Branchen. „Um regulatorische Rahmenbedingungen zügig und zielgenau anzupassen, müssen wir viel stärker als bisher auf Reallabore zurückgreifen“, empfiehlt Uwe Cantner. „Mit Reallaboren können wir testen, wie der Verzicht auf bestimmte Regelungen auf Inventions- und Innovationstätigkeiten wirkt. Leider wird diese Möglichkeit bisher noch viel zu selten genutzt.“ Die Bundesregierung sollte zudem mit der geplanten nationalen Datenstrategie klare und einfache Regelungen schaffen, um eine umfassende und innovationsfreundliche Nutzung von Forschungsdaten zu ermöglichen. Ganz zentral sei dabei eine einheitliche Auslegung der Datenschutzregelungen über alle Bundesländer hinweg. 

Synergien zwischen militärischer und ziviler Forschung ausloten

Des Weiteren stellt die EFI in ihrem Gutachten die strikte Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung infrage und ruft die Bundesregierung dazu auf, bei ihrer Forschungs- und Innovationsförderung mögliche Synergien in den Blick zu nehmen. „Fakt ist, dass in anderen Ländern Forschungsaktivitäten im Militärsektor wichtige Impulse für Innovationen im zivilen Sektor liefern und umgekehrt. Das heißt, durch die strikte Trennung der beiden Sektoren entgehen Deutschland fortlaufend Synergieeffekte und Innovationsimpulse“, kritisiert Uwe Cantner. „Beispielsweise ist die Cybersicherheit sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Sektor immens wichtig. Hier sollten die Anstrengungen in der Forschung gebündelt werden.“ Die Expertenkommission empfiehlt den Wissenschaftseinrichtungen, bestehende Zivilklauseln – mit denen sie sich verpflichten, ausschließlich für zivile Zwecke zu forschen – vor dem Hintergrund der Zeitenwende zu überprüfen.

 

In ihrem Gutachten geht die EFI auf diese Schwerpunktthemen ein:

  • 1. Innovationspotenziale Älterer künftig besser nutzen

    Für Innovation gibt es kein Höchstalter. Die EFI plädiert dafür, angesichts des drohenden Fachkräftemangels die Innovationspotenziale älterer Menschen besser zu nutzen. Ältere Beschäftigte seien fast so häufig mit Forschungs-, Entwicklungs- und Konstruktionsarbeiten betraut wie jüngere. Auch zum Patentaufkommen trügen sie in erheblichem Umfang bei. „Selbst wenn Beschäftigte das Ruhestandsalter schon erreicht haben, sind viele von ihnen noch bereit, die Entstehung von Innovationen durch ihr Wissen und ihre Erfahrung zu unterstützen“, sagt Cantner. „Dafür müssen wir ihnen möglichst attraktive Bedingungen bieten.“

    Potenzial sieht die Expertenkommission in der projektbezogenen Weiterbeschäftigung von Ruheständlerinnen und Ruheständlern als Senior Experts und regt dafür eine unternehmensübergreifende Vermittlungsplattform an. Zugleich sollten arbeitsrechtliche Hemmnisse abgebaut werden. Konkret fordert die Expertenkommission, die sachgrundlose Befristung von Ruheständlerinnen und Ruheständlern zu erleichtern. Weiteren Handlungsbedarf erkennt die Expertenkommission bei der Förderung der Digitalkompetenzen und regt an, die längst überfällige Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und damit verbundene digitale Dienste systematisch mit Unterstützungsangeboten für Ältere zu verknüpfen, bei denen der Erwerb von Digitalkompetenzen im Vordergrund steht.

  • 2. Bessere Verwertung von Ideen durch Technologiemärkte

    Das EFI-Gutachten befasst sich auch mit Technologiemärkten, also mit Märkten, auf denen technologisches Wissen in Form von Rechten zum Schutz geistigen Eigentums (sogenannte IP-Rechte) wie z. B. Patenten gehandelt wird. „Technologiemärkte”, so Prof. Dr. Carolin Häussler, Mitglied der Expertenkommission, „können erheblichen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen schaffen. Denn sie bieten die Möglichkeit, das von einem Unternehmen entwickelte Wissen mit den komplementären Kompetenzen und Ressourcen eines anderen Unternehmens zusammenzubringen, das dieses Wissen besser in die Anwendung bringen kann als der bisherige Eigentümer. Diese Möglichkeit, eine neu entwickelte Technologie nicht mehr selbst am Markt platzieren zu müssen, aber dennoch von ihrer Entwicklung zu profitieren, gibt den Unternehmen zusätzliche Anreize, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Technologiemärkte begünstigen somit eine effizientere Arbeitsteilung im Innovationsprozess“.

    Die Funktionsfähigkeit von Technologiemärkten werde in der Praxis jedoch durch eine Reihe von Hemmnissen eingeschränkt. „So ist es insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen auf Technologiemärkten oftmals schwierig, geeignete Handelspartner zu finden oder den Wert von Rechten an geistigem Eigentum verlässlich einzuschätzen“, erklärt Uwe Cantner. Denn bei solchen IP-Rechten (intellectual property) gehe es häufig um sehr komplexe Technologien, über die das Unternehmen, das seine IP-Rechte verkaufen will, besser Bescheid wisse als ein potenzieller Käufer. Hinzu komme mangelndes Vertrauen in die Technologiemärkte, dass sie sichere und faire Transaktionen gewährleisten können. Um die Beteiligung am Technologiehandel und die Funktionsfähigkeit von Technologiemärkten zu erhöhen, seien geeignete Rahmenbedingungen sowie gezielte Anreize der öffentlichen Hand notwendig. „Hierzu fordert die EFI die Weiterentwicklung der Datenbanken des Deutschen Patent- und Markenamts und des Europäischen Patentamts, beispielsweise mit Hilfe von Verfahren der künstlichen Intelligenz, um so relevante patentgeschützte Technologien und Handelspartner besser matchen zu können“, so die stellvertretende Kommissionsvorsitzende Prof. Dr. Irene Bertschek. Durch eine Verknüpfung dieser bestehenden Datenbanken mit weiteren Daten könnten Informationen zu Übertragungen von IP-Rechten effizient gebündelt und nutzerfreundlich bereitgestellt werden.

    Vor allem kleine und mittlere Unternehmen sollten bei Aktivitäten auf Technologiemärkten unterstützt werden“, so Cantner. Hierzu fordert die EFI, bestehende Initiativen zur Förderung der Patentierung und Verwertung von Erfindungen fortzuführen und auszuweiten sowie die Ausarbeitung von Standardverträgen für die Übertragung von IP-Rechten weiter voranzutreiben. Flankierend zu diesen Maßnahmen empfiehlt die EFI, bestehende Verwertungsstrukturen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, insbesondere Technologietransfer und Patentverwertung, weiter zu professionalisieren sowie unternehmerischer und wettbewerblicher auszurichten.

  • 3. Potenziale der Raumfahrt besser nutzen

    Drittens thematisiert die EFI die internationale Transformation der Raumfahrt zu einem zunehmend privatwirtschaftlichen und kommerziell getriebenen Sektor. Weltraumtechnologien seien schon heute aus dem alltäglichen Leben nicht wegzudenken und ihre Bedeutung werde in Zukunft noch wachsen. Sie haben aus Sicht der EFI das Potenzial, zur Bewältigung globaler gesellschaftlicher Krisen beizutragen. Prof. Dr. Till Requate, Mitglied der Expertenkommission, stellt klar: „Satelliten sind für die moderne Kommunikation und Navigation inzwischen unerlässlich. Erdbeobachtungsdaten sind nicht mehr nur militärisch von Interesse, sondern helfen bei der Erforschung des Klimawandels oder beim Katastrophenschutz. Eine solide Satelliteninfrastruktur ist für das Internet der Dinge oder autonomes Fahren nicht wegzudenken.“

    Das breite Potenzial von Weltraumtechnologien sei vonseiten der Wirtschaft längst erkannt worden. Zunehmend würden private Unternehmen in der Raumfahrt aktiv und entwickelten Produkte oder Technologien für die Raumfahrt selbst oder nutzen Satellitendaten für innovative Produkte. Die deutsche Politik habe mit dieser Dynamik nicht mitgehalten. So besitze Deutschland trotz entsprechender Ankündigungen noch immer kein nationales Weltraumgesetz und biete dementsprechend keine ausreichende Klarheit über den künftigen Rechtsrahmen.

    Die breite zivile und militärische Anwendung von Raumfahrttechnologien begründe die enorme strategische Relevanz der Raumfahrt und löse Rufe nach technologischer Souveränität aus. Gleichzeitig bleibe die Raumfahrt ein teures Unterfangen. Uwe Cantner erklärt: „Spielräume für Effizienzsteigerungen müssen konsequent genutzt werden. Technologische Souveränität in der Raumfahrt muss dabei auf europäischer Ebene gedacht werden. Darüber hinaus dürfen mögliche Synergien aus der gemeinsamen zivilen und militärischen Verwendung von Weltrauminfrastrukturen nicht ungenutzt bleiben.“ Zudem brauche es Konzepte und konkrete Maßnahmen, um Weltraumstrukturen, die in der Regel in den Bereich kritischer Infrastruktur gerückt werden müsse, zu schützen.

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) mit Sitz in Berlin leistet seit 2008 wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung und legt jährlich ein Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands vor. Wesentliche Aufgabe der EFI ist es dabei, die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich zu analysieren und die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland zu bewerten. Auf dieser Basis entwickelt die EFI Vorschläge für die nationale Forschungs- und Innovationspolitik.

Information

Das EFI-Jahresgutachten 2023 ist online verfügbar unter: https://www.e-fi.de/publikationen/gutachtenExterner Link

Kontakt:

Uwe Cantner, Prof. Dr.
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Foto: Jan-Peter Kasper (Universität Jena)
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