Westdeutschland profitierte stärker von der Wiedervereinigung

Wirtschaftsforschende zeigen divergierende Entwicklung des Innovationsgeschehens in Ost- und Westdeutschland
  • Forschung

Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein

Die Innovationsaktivitäten im Osten Deutschlands sind vor allem auf Leuchtturmregionen konzentriert, wie Dresden oder – hier im Bild – Jena.

Foto: Jens Meyer (Universität Jena)

Die Wiedervereinigung war mit vermehrter Innovationstätigkeit sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland verbunden. Allerdings haben die „alten“ Bundesländer von dem Zusammenschluss wesentlich stärker profitiert als die Regionen in der ehemaligen DDR. Dies geht aus einer aktuellen Studie von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie der Universitäten Groningen und Utrecht hervor. Die Analysen machen insbesondere deutlich, dass sich die Intensität der Innovationsaktivitäten im Westen seit Mitte der 1990er deutlich besser entwickelt als im Osten – der Osten fällt im Innovationsbereich also immer stärker zurück. Die Arbeit entstand im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes, das sich mit den Folgen der deutsch-deutschen Teilung auf regionale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland im Innovationsbereich beschäftigt. 

Im Rahmen ihrer Analysen verglichen die Forschenden die Patentanmeldungen pro Kopf in Ost- und Westdeutschland von 1877 bis zum Jahr 2015 miteinander. „Durch diese lange Zeitspanne konnten wir zum einen sichtbar machen, dass vor dem Zweiten Weltkrieg keine Ost-West-Unterschiede in der Intensität des Innovationsgeschehens vorlagen“, sagt PD Dr. Michael Wyrwich. „Zum anderen finden wir im Osten durch die Gründung der DDR und die damit einhergehende Einführung der Planwirtschaft eine deutliche Zäsur.“ Für die Entwicklung nach der Wiedervereinigung legen die Zahlen des Jahres 1991 die Grundlinie. „Von diesem Jahr ausgehend sehen wir einen Anstieg der Innovationsaktivitäten sowohl in West- als auch in Ostdeutschland“, erklärt Prof. Dr. Michael Fritsch von der Universität Jena. „Allerdings steigt diese Kurve im Westen wesentlich steiler an als dies in den Gebieten der ehemaligen DDR der Fall ist“. Die Schere zwischen Ost und West geht also deutlich auseinander. Dabei sind die Innovationsaktivitäten im Osten vor allem auf Leuchtturmregionen wie Jena und Dresden konzentriert. 

Flurbereinigung und „Brain Drain“

Die Forschenden sehen vor allem zwei Ursachen für diese Entwicklung: „Zum einen weisen wir mit unserer Studie erstmals empirisch den Effekt der sogenannten Flurbereinigung nach,“ erläutert Fritsch. Damit ist gemeint, das Doppelstrukturen in Forschung und Entwicklung nach der Wiedervereinigung überwiegend zu Lasten des Ostens beseitigt wurden, da die entsprechenden Forschungen in Westdeutschland in aller Regel weiter fortgeschritten waren. „Westdeutsche Forscher verdrängten also ostdeutsche Forscher“, sagt Fritsch. Dieser Effekt war auch deshalb relativ deutlich ausgeprägt, weil sich das technologische Profil der beiden deutschen Staaten sehr ähnelte. Weiterhin spielte eine Rolle, dass viele hochqualifizierte ostdeutsche Forscherinnen und Forscher sowie Entwicklerinnen und Entwickler in den Westen abwanderten und sich dort in Innovationsprozesse einbrachten. Dabei muss auch festgestellt werden, dass bereits in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg viele innovative Firmen aus Ostdeutschland in den Westen abgewandert sind, um der Verstaatlichung zu entgehen. Durch diese Entwicklungen wurde das Innovationssystem im Osten nachhaltig geschädigt, was auch massive politische Einflussnahme, wie zum Beispiel Förderprogramme und Investitionen, nicht ausgleichen konnte. Dies heißt allerdings nicht, dass Fördermaßnahmen wirkungslos waren, denn höchstwahrscheinlich wäre die Entwicklung im Osten ohne sie sehr viel negativer ausgefallen. 

Innovationen und Innovationsnetzwerke stärken

Mit Forschungsergebnissen wie dem nun vorliegenden wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es bisher keine Konvergenz zwischen Ost und West im Innovationsgeschehen gibt und dass dies auch mit den Prozessen nach der Wiedervereinigung zu tun hat“, sagt Dr. Maria Greve. „Wenn der Osten aber wirtschaftlich aufholen soll, dann muss er schneller wachsen als der Westen – und dafür braucht es Innovationen.“ 

Warum die Innovationslücke zwischen Ost und West nach wie vor größer wird und die neuen Bundesländer in diesem Bereich nicht aufholen, ist schwer zu erklären. Das Jenaer Team vermutet, dass die genannten Phänomene der Flurbereinigung und des Brain Drains beispielsweise auch etablierte Netzwerkstrukturen zerstört haben, die für Innovationsprozesse elementar sind. Allerdings muss dabei auch festgestellt werden, dass die Kooperationsneigung in Ostdeutschland höher ausgeprägt ist. Die Vermutung liegt nahe, dass die positiven Effekte, die von diesen Netzwerken ausgehen, geringer sind als in Westdeutschland. Netzwerkstrukturen mussten im Osten neu aufgebaut werden und benötigen möglicherweise Zeit, um ihre volle positive Wirkung zu entfalten. Es ist auch möglich, dass die neuen Netzwerke schlechter organisiert sind oder nur eingegangen wurden, da eine Vernetzung Voraussetzung für einen Fördermittelzugang gewesen ist. Auf die Rolle von Netzwerken und ihren Effekten will das Team in zukünftigen Untersuchungen näher eingehen. 

Zudem bilden die vorgelegten Erkenntnisse die Grundlage für weitere Forschungsprojekte. Zum einen wollen die Forschenden die Entwicklung in einzelnen technologischen Gebieten genauer untersuchen und dabei klären, welche Kräfte die Flurbereinigung nach der Wende genau bewirkt haben. Zum anderen wollen sie klären, welche Rolle der schockartige Charakter der Transformation in Ostdeutschland gespielt hat. Hierzu dient insbesondere ein Vergleich mit Innovationsaktivitäten in Polen und Tschechien, wo die Transformation deutlich sanfter verlaufen ist. 

Information

Original-Publikation: 

M. Fritsch, M. Greve, M. Wyrwich: Shades of a Socialist Legacy? Innovation Activity in East and West Germany 1877-2014, Jena Economic Research Papers, 2023. https://ideas.repec.org/p/jrp/jrpwrp/2023-001.htmlExterner Link