Lehre NACHGEFRAGT
Prof. Dr. Kai U. Totsche ist Inhaber des Lehrstuhls für Hydrogeologie an der Universität Jena, sowie Mitglied und Sprecher verschiedener Forschungsgruppen und -projekte. Das Lehrangebot seines Lehrstuhls basiert auf einem strukturierten, konsekutiven Lehrkonzept, in dem neben fachspezifischem Wissen und Kompetenzen auch methodische Fähigkeiten und Praxiskompetenzen vermittelt werden. Im aktuellen Sommersemester bietet er gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen ein eigenes Modul zum ‚Wissenschaftlichen Arbeiten‘ an. Hier erlernen Studierende grundlegende Kompetenzen im Umgang mit Literatur und Literaturverwaltung, führen angeleitete Rechercheübungen durch und erwerben Wissen rund um das Management von Forschungsdaten. Warum die Vermittlung solcher Kompetenzen von enormer Bedeutung für den wissenschaftlichen Nachwuchs und ihm persönlich eine Herzensangelegenheit ist, erklärt er im Interview.
Was verstehen Sie unter ‚Guter wissenschaftlicher Praxis‘ und warum ist es wichtig, dass die Universität ihre Studierenden mit Kompetenzen aus diesem Bereich ausstattet?
Unter „Guter wissenschaftlicher Praxis“ verstehe und vermittle ich unter anderem in der Lehrveranstaltung zum „Wissenschaftlichen Arbeiten“ im Studiengang Geowissenschaften (Bachelor of Science) zum einen die wissenschafts- bzw. erkenntnistheoretischen Grundlagen des umweltnaturwissenschaftlichen Arbeitens. Zum anderen umfasst die „Gute wissenschaftliche Praxis“ das „Warum und Wie“ und das „Überhaupt und Wie Gut“ des wissenschaftlichen Arbeitens. Also nicht nur Fragen, wie methodisch wissenschaftliche Ergebnisse erzielt, vor welchem theoretischen Hintergrund Wissen geschaffen werden kann und wissenschaftliches Arbeiten erfolgt, sondern auch was die Güte bzw. die Qualität des wissenschaftlichen Arbeitens ausmacht. Dazu zählt auch wie die „Güte gemessen“ bzw. beurteilt werden kann und wie Qualität im Wissensschaffens-Prozess sichergestellt werden kann. Diese Aspekte untersuchen wir insbesondere auch daran, was eine gute wissenschaftliche Originalarbeit ausmacht.
Dabei ist mir wichtig, den Studierenden zu vermitteln, dass die „Gute wissenschaftliche Praxis“ viel mehr ist als das Erlernen des Abfassens eines wissenschaftlichen Textes, etwa einer Haus- oder Abschlussarbeit, und dass sie auch mehr umfasst, als das Einführen in die „Regeln guter wissenschaftlicher Praxis“. Ersteres ist wichtig, da hier die Studierenden praktisch das wissenschaftliche Schreiben unter verschärften Bedingungen (Prüfungsleistung) einüben. Letzteres ist essenziell für das Sicherstellen des wissenschaftlichen und respektvollen Umgangs, nicht nur im akademischen Raum, und nicht nur in der „Universitätsfamilie“.
Davor muss unverzichtbar das Vertraut-machen der Studierenden mit dem wissenschaftlichen Paradigma, auf dem eine Disziplin – bei mir die Umweltnaturwissenschaften – fußt, stehen. Nur wenn diese Fundamente vorgestellt, erläutert, erkannt und verinnerlicht worden sind, ist ein Ziel der universitären Lehre erreicht: Die Herausbildung einer „reifen Wissenschaftspersönlichkeit“, die nicht nur die methodischen und theoretischen Fundamente beherrscht, sondern sich auch den moralisch-ethischen Aspekten verpflichtet hat. Denn es geht ja nicht nur um die wissenschaftliche Redlichkeit, das Sicherstellen der Qualität wissenschaftlichen Arbeitens, das Erkennen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, sondern über die Frage des Könnens hinaus auch um die Auseinandersetzung mit moralisch-ethischen Kategorien im Hinblick auf das „Dürfen und Sollen“.
Eine entscheidende neue Qualität und Herausforderung in der „Guten Wissenschaftlichen Praxis“ erreicht nicht nur die Universitäten mit ungeahnter Wucht mit den großen Sprachmodellen, Deep-Learning-Methoden und dem, was seit Dezember 2022 bspw. von OpenAI über ChatGPT zur freien Verfügung gestellt wird: Die Möglichkeit, diese Systeme über geeignete Fragestellungen nahezu in allen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen und insbesondere auch in der Anfertigung von Texten anzuwenden. Im Kern bedeutet das, nicht mehr auf das ureigene selbständige Schaffen angewiesen zu sein, sondern die Antwort auf beliebige Fragen durch Algorithmen generieren zu lassen, die dafür die in Textform über das Web und Datenbanken verfügbaren „Informationen“ ausgewertet haben. Diese textuellen Antworten, sprachlich geschliffen, die die großen Sprachmodelle erzeugen, besitzen eine erstaunliche, zuweilen erschreckend große Qualität und auf den ersten Blick auch eine scheinbare inhaltliche Korrektheit. In diesem Gebiet ist der Fortschritt rapide, die Chancen gewaltig, die Gefahren und Konsequenzen in vielerlei Aspekten noch weitestgehend unabsehbar aber vermutlich dramatisch. Und natürlich ist die Versuchung für unsere Studierenden sehr groß und vielleicht unwiderstehlich, aus Bequemlichkeit oder aus Zeitnot nicht den eigenen Geist bemühen zu müssen, sondern sich auf die „Segnungen“ der Ergebnisse des maschinellen Lernens auf Basis großer Sprachmodelle nicht nur bei der Abfassung von Haus- und Abschlussarbeiten zu verlassen.
Auch wir Lehrenden sind hier vor neue und grundsätzliche Herausforderungen gestellt, etwa im Feststellen des Lernzielerfolges. Die Begutachtung einer Haus- oder Abschlussarbeit kann hierfür kaum mehr herangezogen werden. Inwiefern der Inhalt einer verschriftlichten Arbeit auf die selbständige und originäre Leistung des oder der Studierenden zurückzuführen ist, wird zunehmend unklar und wir werden zukünftig auf andere Prüfungsformen angewiesen sein. In der Konsequenz bedeutet das, dass aus Verfügbarkeit und rapider Entwicklung des Deep-Learnings und der großen Sprachmodelle auch für die „Gute wissenschaftliche Praxis“ neue Herausforderungen erwachsen, für die es geeignete Lösungen zu entwickeln gilt.
Nicht jeder Absolvent und nicht jede Absolventin möchte Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin werden. Sind Kompetenzen im wissenschaftlichen Arbeiten in allen Disziplinen notwendig?
Ein klares, deutliches und lautes „JA“. „Gute wissenschaftliche Praxis“ ist ja, auch wenn der Name und der Kontext zu „Guter Laborpraxis“ oder etwa „Guter landwirtschaftlicher Praxis“ hier vielleicht eine verengte Interpretation evoziert, nicht nur auf das Erzielen wissenschaftlicher Ergebnisse ausgerichtet, sondern auch auf das „Wie“, das „Warum“, das „Wozu“ und das „Ob überhaupt“ des akademischen Arbeitens. Die in der „Guten wissenschaftlichen Praxis“ erlernten Fähigkeiten zur Recherche des Standes des Wissens bzw. des Beschaffens von relevanter Information, das Analysieren von Argumenten und Argumentationsketten, das Interpretieren der über die Daten vermittelten Zusammenhänge von Phänomen und Ursache, wendet sich ja nicht nur an die „Wissensschaffenden“. Es umfasst generell den kritisch-rationalen Ansatz im Umgang mit „Informationen“ und befähigt den Einzelnen letztendlich dazu, Wissen von Meinung und Glauben unterscheiden zu können sowie Erklärungen und Darstellungen von Sachverhalten mittels nachprüfbarer und nachvollziehbarer Argumente zu geben. Daraus ergibt sich schließlich auch ein rationaler, selbstkritischer Umgang mit den eigenen Argumenten und Schlussfolgerungen und auch eine Stärkung der persönlichen Resistenz gegen die Verführungen und Versuchungen einer immer stärker von Empörungseffekten und Meinungsblasen geprägten Welt.
Wie vermitteln Sie Kompetenzen im Bereich der ‚Guten wissenschaftlichen Praxis‘ und welche innovativen Ansätze sehen Sie, um den Studierenden den Umgang mit wissenschaftlichen Methoden näher zu bringen?
Die Lehrveranstaltung zu „Wissenschaftlichem Arbeiten“, die im dritten Fachsemester des Bachelor-Studiums angeboten wird, kombiniert drei Lehr- und Lernformen: klassische Vorlesung, Vorstellung von Online-Fachinformationssystemen, -Literaturdatenbanken sowie praktische Rechercheübungen und die Präsentation eines Themas unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das „Wissenschaftliche Arbeiten“ ist keine Trockenübung. Die Studierenden erhalten zu Beginn der Veranstaltung individuell ein aktuelles Thema aus den Geowissenschaften zugeteilt, an dem sie das wissenschaftliche Arbeiten praktisch einüben können und sollen. Aufgabe ist es unter anderem, auf Basis einer Recherche unter Verwendung der diversen Datenbanksysteme eine Literaturliste von 50 relevanten Arbeiten zu erstellen, aus denen drei für das Thema wesentliche Arbeiten zu kondensieren sind. Dieses Recherchekondensat wird dann von den Studierenden in schriftlicher und mündlicher Form präsentiert. Dabei gehen wir alle Phasen dieser Recherchearbeit mit dem Ziel des Ermittelns des „Standes des Wissens“ durch: Von der Aufgabenstellung und Eingrenzung des Themenschwerpunktes, über das Vertraut-machen mit Datenbanksystemen inklusive Literaturdatenbanken, das praktische Einüben von Recherchestrategien, bis hin zum Auswertungsprozess im Hinblick auf das wissenschaftliche Produkt, einer Präsentation in Form von Vortrag und Hausarbeit oder Poster-Präsentation mit Handout. Dabei habe ich mir in diesen Bereichen sehr kompetente Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen aus der ThULB, dem Dekanat der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät (Wissenschaftliche Information) und dem Kompetenzzentrum Digitale Forschung zu den Themenbereichen „Fachdatenbanken“ inklusive Literaturdatenbanken, Recherche-Strategien in Online-Datenbanksystemen und Forschungsdatenmanagement gesichert, die mit großem Engagement die Studierenden mit diesen wesentlichen Aufgaben des wissenschaftlichen Arbeitens vertraut machen.
Damit ist aber auch schon eine doppelstündige Veranstaltung mehr als gefüllt und weitere wesentliche Aspekte des wissenschaftlichen Arbeitens, so zum Beispiel der empirischen Forschung, der experimentellen Forschung, der explorativen Datenauswertung, der Theoriebildung und -prüfung, oder auch der computergestützten Techniken, können nicht behandelt werden. Einen Teil dieser Aspekte behandle ich im Masterstudium in der Lehrveranstaltung „Ökometrie“, einer spezifisch für die Umweltnaturwissenschaften entwickelten Methodendisziplin, die sich mit den Besonderheiten der umweltnaturwissenschaftlichen Forschung und den spezifischen und neuen Aspekten der Forschungsobjekte beschäftigt.
Ein weiterer Ansatz neben dem Anregen und Ermutigen des wissenschaftlichen Diskurses in der Lehrveranstaltung ist die „Nachlese“ bzw. die inhaltliche Aufarbeitung von externen fachwissenschaftlichen Vorträgen insbesondere unter den Gesichtspunkten der „Guten wissenschaftlichen Praxis“. Auch in unseren Studiengängen bieten wir in der Vorlesungszeit unseren Studierenden wöchentlich zweimal die Gelegenheit, zu einem bestimmten Themenbereich – teilweise von den Studierenden vorgeschlagene – externe Expertinnen und Experten in Referaten persönlich zu erleben. Diese Fachvorträge bieten häufig nicht nur eine alternative Sichtweise auf Themenbereiche in der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin. Sie bieten auch sehr gute Gelegenheiten, die Inhalte eines solchen Vortrages auf seine Kompatibilität mit der “Guten wissenschaftlichen Praxis“ zu analysieren, die vorgestellten Ergebnisse kritisch zu diskutieren, die angewendete Methodik auf ihre Eignung und Angemessenheit zu untersuchen und die Festigkeit des Fundaments sowie die Argumente, die die gezogenen Schlussfolgerungen stützen, zu prüfen.
Was würden Sie Lehrenden raten, die ihren Studierenden gern mehr Kompetenzen im Umgang mit wissenschaftlichen Methoden vermitteln möchten?
Auch wenn der Stoff manchen Studierenden zunächst sehr trocken und angestaubt vorkommt und scheinbar nur metaphysischen Charakter haben mag: Meiner Überzeugung nach ist das intime Vertraut-machen der Studierenden mit dem theoretischen Fundament und dem methodischen Instrumentarium eine der vornehmsten Aufgaben in der Lehre, unabhängig von der wissenschaftlichen Disziplin. Sollten die Curricula eines Studiums auf dem Bachelor-Niveau keine solchen Lehrveranstaltungen umfassen, dann sollten den Studierenden nachdrückliche Empfehlungen mit Hinweisen zur Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten gegeben werden. Denn es geht eben nicht nur um das Erwerben von Kompetenzen für die Abfassung von Haus- oder Abschlussarbeiten, was in Zeiten von Deep-Learning und der Verfügbarkeit von Maschinelles-Lernen Systemen auf Basis großer Sprachmodelle (Stichwort BARD oder ChatGPT) extrem vereinfacht wird.
Natürlich kann jeder oder jede Lehrende, die sich in der „Guten wissenschaftlichen Praxis“ inhaltlich sicher zu bewegen weiß, die Grundlagen und methodischen Verfahrensweisen, mithin das Paradigma der eigenen wissenschaftlichen Disziplin, in die eigenen Lehrveranstaltungen integrieren. Das bedeutet konkret, nicht nur die Inhalte und Ergebnisse der Forschungen eines Fachgebietes zu präsentieren, sondern aufzuzeigen, wie das Prozedere, der wissenschaftliche Prozess aussieht bzw. aussah, mit dem diese Ergebnisse erzielt worden sind.
In meinen Lehrveranstaltungen integriere ich die diversen Aspekte der „Guten wissenschaftlichen Praxis“ und stimuliere die Diskussion mit den Studierenden über Fragen wie etwa „Wie würden Sie dieses Problem untersuchen?“, „Wie würden sie diese Fragestellung wissenschaftlich formulieren?“, „Wie müsste ein Experiment, ein Mess- oder Untersuchungsprogramm aussehen, um diese Fragestellung zu beantworten?“, „Welche Ursache vermuten Sie hinter einem bestimmten Phänomen?“ sowie zu den Grundlagen und Grundzügen des wissenschaftlichen Arbeitens und damit der „Guten wissenschaftlichen Praxis“. In der gemeinsamen, moderierten und behutsam gelenkten Diskussion wird die „Gute wissenschaftliche Praxis“ daher begleitend zu den Fachinhalten einer Vorlesung vermittelt. Meine Erfahrung ist hier sehr positiv: dieses Format führt bei vielen Studierenden während der Diskussion zu einem „Aha-Erlebnis“, dem kleinen Geschwister des „Heureka“. Schön ist es, zu sehen, wenn die Studierenden beginnen, offensichtlich tief über ein gestelltes Problem nachzudenken und dabei im Diskurs die „Fehler“ zum Beispiel in der eigenen Schlussweise oder der Logik der Argumentation selbst aufdecken. Eine Tafel oder ähnliches zum Entwickeln des Problems und seiner Lösung ist dabei nach wie vor ein tolles Werkzeug für den gemeinsamen Austausch und die Visualisierung des Problems und für den Prozess zur Lösung. Sehr positiver Nebeneffekt dieses Lehrformates ist dabei auch, dass die Studierenden über das wissenschaftliche Diskutieren und Argumentieren den kritisch-rationalen Ansatz quasi nebenher einüben: In Zeiten von Meinungs-Stakkato, Empörungs-Affekten und Influencing über die diversen, niemals schlafenden Social-Media-Kanäle, bietet dieser Ansatz einen wohltuenden und meist erbaulichen Kontrast für Geist und Seele, der mit der tiefen Zufriedenheit über einen gefundenen Lösungsweg oder eine gewonnene Erkenntnis verbunden ist. Es ist eben nicht nur das allgemeine Erkenntnisinteresse – das Schaffen neuen Wissens – das Ergebnis „Guter wissenschaftlicher Praxis“ sein kann, sondern insbesondere auch das individuelle Erkenntnisinteresse jedes Einzelnen, die Befriedigung, die sich einstellt, wenn nach langen Mühen und intellektueller Plackerei und Frustration man endlich fühlt „Jetzt-habe-ich-das-wirklich-begriffen!“ (Wissen) und „Jetzt-kann-ich-das-tatsächlich-nachvollziehen!“ (Kompetenzen)“: Der intellektuelle Glückszustand, ein Moment der Zufriedenheit, der sich nach erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit entwickelt und mit keinem anderen Wohlfühlzustand vergleichbar ist, und vor allem, nicht nur von kurzer Dauer ist. Denn das, was einmal „richtig verstanden wurde“, bleibt für sehr lange Zeit verfügbarer Bestand des eigenen Wissens und der individuellen Kompetenzen, die für „Neues“, für Innovationen und für Fortschritt genutzt werden können und die einem niemand mehr nehmen kann.