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Meldung vom: | Verfasser/in: Stephan Laudien
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Welchen Stellenwert hat der oder die Einzelne in einer Gesellschaft, in einem politischen System? Wie schwer war es beispielsweise in der NS-Zeit, Mensch zu bleiben, menschlich zu handeln? Fragen wie diesen geht Prof. Dr. Stefanie Middendorf nach. Die Zeithistorikerin lehrt und forscht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie den renommierten Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte übernommen hat. Es gehöre zu ihren Forschungsschwerpunkten, zu ergründen, wie sich Menschen in Zeiten von Krieg oder Krisen verhalten, sagt Stefanie Middendorf. Für diese Frage sei es zunächst nicht entscheidend, ob die Krise eine Demokratie oder eine Diktatur betrifft.
Die Ökonomie als Denkrahmen
Stefanie Middendorf hat sich intensiv mit der Geschichte des Reichsfinanzministeriums nach dem Ersten Weltkrieg befasst. „Es ist spannend zu sehen, welchen Einfluss einzelne Akteure innerhalb des Apparates auf dessen Arbeit nahmen“, sagt sie. So hätten Beamte des Ministeriums – gemeinhin als Rädchen im Getriebe wahrgenommen – der Politik ganz konkrete Handlungsspielräume eröffnet, hätten so selbst staatspolitische Macht gewonnen. Erforschen wollte sie das in zwei politischen Systemen, weshalb Prof. Middendorf für ihre Habilitation den Zeitraum von 1919 bis 1945 in den Blick genommen hat. So konnte sie herausfinden, welche Einstellungen zu Staatswesen, Ökonomie und Politik die Beamten in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Regime hatten und wie diese Einstellungen, angesichts der damaligen Ausnahmezustände, gesellschaftlich prägend wurden. Interessant sei dabei auch der vergleichende Blick in die Gegenwart, die ebenso in der Krise um gesellschaftliche Gewissheiten und „den Staat“ streite, konstatiert Stefanie Middendorf.
Das Ökonomische ist ein wichtiger Denkrahmen für die 48-jährige Zeithistorikerin. Aktuell leitet sie ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Forschungsnetzwerk, das untersucht, wie Staatsschulden historisch „gemacht“ wurden. Zudem arbeitet sie in einer Forschungsgruppe, die sich mit der Geschichte des Bundesministeriums der Finanzen seit 1945 befasst. „Mein Plan ist es, eine Kulturgeschichte des Kredits im langen 20. Jahrhundert zu schreiben“, sagt sie. Sei doch Schuldenmachen in Krisenzeiten nicht nur eine Sache des Staates, sondern eine zutiefst menschliche Angelegenheit.
In Jena „tolle, engagierte Studierende“ vorgefunden
Stefanie Middendorf ging in Oldenburg zur Schule, studierte in Freiburg/Br. und Basel Geschichte, Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte. Im Rahmen ihrer Promotion 2008 in Freiburg erkundete sie den Wandel der kulturellen Moderne in Frankreich in den Jahren nach 1880 und forschte dafür einige Zeit in Paris. In der kulturhistorischen Arbeit ging es um Phänomene wie das Kino oder neue Medien. Während des Studiums verbrachte sie zudem ein Jahr als Graduate Fellow an der Hebrew University Jerusalem.
In Jena habe sie tolle, engagierte Studentinnen und Studenten vorgefunden, eine hohe Lektürebereitschaft und Diskussionsfreude. Rückmeldungen der Studierenden geben ihr wichtige Impulse für die eigene Arbeit, sagt Stefanie Middendorf. So gelte es immer wieder, gemeinsam über Begriffe und Methoden zu reflektieren, auch über theoretische Fragen nachzudenken. Heiße historische Forschung doch, die Vergangenheit wieder und wieder durch die Linse der Gegenwart zu betrachten. Dies gelte gerade für die Geschichte des Nationalsozialismus, ein bleibendes Thema in Forschung und Lehre: „Heute stellen wir andere Fragen an die NS-Zeit als noch vor 30 Jahren.“ Gleichzeitig sei es wichtig, die nationalsozialistische Herrschaft nicht als ein aus der Zeit gefallenes Phänomen zu sehen, Kontinuitäten und Brüche in den Blick zu nehmen und diese Vergangenheit so immer wieder neu in die Zeitgeschichte – Geschichte der Gegenwart – hineinzudenken. Wichtig sei ihr zudem ein interdisziplinärer Ansatz in der Geschichtswissenschaft.
Wertvolle Erfahrungen hat sie nach ihrer Promotion im Kulturinstitut der Stadt Braunschweig gesammelt. In der gemeinsamen Arbeit von Personen, Vereinen, Museen, Verbänden, Universität und Stadt entstand eine virtuelle Stadtkarte der Erinnerung, das „Vernetzte Gedächtnis“. An diese Arbeit möchte Prof. Middendorf in Jena anknüpfen. Erste Kontakte etwa zum Stadtmuseum oder zum Thüringer Archiv für Zeitgeschichte hat sie bereits geknüpft.
Stefanie Middendorf lebt mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Berlin. In ihrer Freizeit interessiert sie sich für Kunst und Reisen – viel Zeit bleibt dafür jedoch nicht.
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