Elfmeter beim Fußball: Wie reagieren Schütze und Torwart auf Bewegungen des anderen?

Unbekanntes Terrain erschließen – nicht nur am Elfmeterpunkt

VolkswagenStiftung fördert Projekt, das erforscht, wie sich Bewegungsabläufe beim Menschen besser vorhersagen lassen
Elfmeter beim Fußball: Wie reagieren Schütze und Torwart auf Bewegungen des anderen?
Foto: Christoph Worsch (Universität Jena)
  • Forschung

Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein

In die Zukunft schauen können ist eine Superkraft, die jeder Mensch besitzt. Denn wir alle treffen tagtäglich kleine Vorhersagen, beispielsweise wenn wir anderen Menschen begegnen. Gehen zwei Personen in einer Fußgängerzone aufeinander zu, dann sehen sie in der Regel die Bewegung des jeweiligen Gegenübers vorher, um das eigene Verhalten entsprechend anzupassen und kollisionsfrei aneinander vorbeizugehen. Für diesen komplexen Prozess der Vorhersage, den Expertinnen und Experten Antizipation nennen, nutzen wir verschiedene Informationen, wie etwa Erfahrungswerte oder die Körperhaltung des Gegenübers. Doch welche Rolle spielt bei dieser Vorwegnahme eines Bewegungsablaufs eigentlich die situative Interaktion zwischen den beiden Personen? Diese Frage wurde bei der Erforschung von Antizipationsprozessen bisher kaum berücksichtigt. Deshalb will sich der Bewegungs- und Sportpsychologe Prof. Dr. Rouwen Cañal Bruland von der Friedrich-Schiller-Universität Jena ihr im Rahmen seines neuen Forschungsprojekts „Navigating Anticipation Research to New Frontiers“ widmen. Unterstützt wird er hierbei von der VolkswagenStiftung, die das Projekt für vier Jahre mit rund 800.000 Euro fördert. 

Wie antizipiert der Torwart, wohin der Ball fliegt?

Wenn in der Sportwissenschaft Experimente zur Antizipation durchgeführt werden, dann beschränken sie sich in der Regel auf Videoaufzeichnungen einer Person, auf die Probanden reagieren. „Wir untersuchen beispielsweise, was den Torwart in einem Elfmeterschießen in die Lage versetzt, zu antizipieren, wohin der Ball fliegen wird, indem wir aus der Perspektive des Torhüters den Schützen und den Ball betrachten“, erklärt Rouwen Cañal Bruland. „Durch verschiedene Formen der Videoanalyse können wir so bestimmte Merkmale der Körperhaltung des Schützen identifizieren, die dem Torwart Informationen liefern, wohin dieser den Ball schießen wird. Oder wir können Flugkurven untersuchen, die ebenfalls Vorhersagen ermöglichen, wohin der Ball fliegen könnte. Was wir bisher aber nicht berücksichtigt haben, ist die Interaktion zwischen Schütze und Torwart. Wie reagiert der Schütze während des Elfmeters etwa auf einen Ausfallschritt des Torwarts – und wie reagiert der Torwart wiederum auf die mögliche Reaktion des Schützen, und so weiter.“ 

Wirklichkeit im Labor

Um den Einfluss solcher Handlungskaskaden in der Antizipation erforschen zu können, bedarf es eines Paradigmenwechsels und neuer Untersuchungsmethoden. „Wenn wir mit unseren Forschungsergebnissen die Wirklichkeit verstehen wollen, indem wir kognitive Prozesse, Antizipation und Wahrnehmung untersuchen, dann müssen wir uns zunächst die Wirklichkeit ins Labor holen“, sagt Cañal Bruland. „Denn nur hier behalten wir die volle experimentelle Kontrolle, um solche Interaktionen umfänglich abbilden zu können.“ Zwar griffen anspruchsvolle Versuchsanordnungen bereits moderne technologische Simulationen im Virtual-Reality-Bereich (VR) auf, doch würden unmittelbare Interaktionen typischerweise bisher nicht einbezogen. „In einer Elfmetersituation reagiert der Avatar des Schützen in einer VR-Simulation eben noch nicht auf die Bewegungen des Probanden als Torwart. Diese Interaktionen sind aber in der Realität Grundlage für Verhaltensentschei­dungen“, sagt der Jenaer Sportwissenschaftler. 

In einem ersten Schritt will er mit einem interdisziplinären Team ein VR-Labor aufbauen, in dem die Forschenden zunächst kinematisch aufzeichnen und analysieren, welche prototypischen Interaktionen zwischen zum Beispiel einem Schützen und einem Torwart ablaufen. Anhand dieser Daten erstellen sie einen Avatar, der so programmiert sein wird, dass er prototypisch auf Bewegungen des Probanden reagiert. Auf der Grundlage dieses neuen Paradigmas schließen sich dann erste Experimente an, um gängige Hypothesen und Befunde der Antizipationsforschung zu überprüfen. 

Über den Sport hinaus 

Mit unserem Projekt bewegen wir uns in von der Antizipationsforschung bisher nicht erschlossenem Terrain und werden dementsprechend auch nicht wenigen Unwägbarkeiten begegnen“, sagt Rouwen Cañal Bruland. „Deshalb freue ich mich ganz besonders darüber, dass ich mich mit meiner Projektidee in der sehr kompetitiven Momentum-Initiative der VolkswagenStiftung durchsetzen konnte und relativ ergebnisoffen unser Forschungsprofil hier in Jena im Bereich Antizipationsforschung interdisziplinär weiterentwickeln kann.“

Der praktische Nutzen dieser Arbeit beschränkt sich dabei bei weitem nicht nur auf den Sport und auf kompetitive, sondern auch auf kooperative Interaktionen. „Wir betreiben hier Grundlagenforschung, die auch in angrenzenden Fachgebieten Verwendung finden kann, etwa in der Kognitionsforschung, den Sozial- und Verhaltenswissenschaften oder auch der Robotik“, informiert der Jenaer Bewegungs- und Sportpsychologe. Forschungsergebnisse auf diesem Feld können in vielen Bereichen Anwendung finden, in denen Menschen mit Menschen, aber auch mit Maschinen oder Künstlicher Intelligenz interagieren wie zum Beispiel mit autonomen Fahrzeugen.

Kontakt:

Rouwen Cañal Bruland, Univ.-Prof. Dr.
vCard
Professur Bewegungs- und Sportpsychologie
Raum O 101b
Seidelstraße 20
07749 Jena Google Maps – LageplanExterner Link