- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sandra Jacob/Laura Weißert
Ein internationales Team von Forschenden aus Linguistik und Genetik unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat einen wichtigen Durchbruch erzielt und damit unser Verständnis zu den Ursprüngen der indogermanischen Sprachen – einer Familie von Sprachen, die von fast der Hälfte der Weltbevölkerung gesprochen werden – maßgeblich erweitert. Beteiligt war auch ein Team der Indogermanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena.
Seit über zweihundert Jahren debattieren Forschende darüber, wo die indogermanischen Sprachen einst ihren Ursprung hatten. Zwei wesentliche Theorien haben diese Debatte bisher dominiert. Die Steppen-Hypothese verortet ihren Ursprung so vor etwa 6.000 Jahren in der pontisch-kaspischen Steppe, während sie der Anatolien- oder Ackerbau-Hypothese zufolge bereits früher, schon seit etwa 9.000 Jahren, zusammen mit dem Ackerbau in Anatolien verbreitet waren. Phylogenetische Analysen der indogermanischen Sprachen gelangten bisher zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen vor allem über das Alter dieser Sprachfamilie, was auf Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten in den verwendeten Datensätzen, sowie auf Einschränkungen bei der Analyse „antiker“ Sprachen zurückzuführen ist.
Um diese Probleme zu lösen, haben Forschende der Abteilung für Sprach- und Kulturevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie gemeinsam mit einem internationalen Team von mehr als 80 Sprachspezialisten einen neuen Datensatz erstellt, der einen ausgewählten Kernwortschatz in 161 indogermanischen Sprachen enthält, darunter auch den von 52 „alten“ bzw. historischen Sprachen. Durch diese umfassendere und ausgewogenere Auswahl von Sprachen in Verbindung mit strikten Protokollen für die Kodierung solch lexikalischer Daten konnten die Probleme von Datensätzen früherer Studien behoben werden.
Die Jenaer Forschenden Prof. Martin Joachim Kümmel, Dr. Matilde Serangeli und Doktorand Robert Tegethoff waren – mit vielen anderen – für die Prüfung, Bereitstellung und Analyse zahlreicher, besonders indoiranischer und anatolischer Sprachdaten verantwortlich. Aus Sicht der historischen Sprachwissenschaft, so Kümmel, sei der wichtigste Vorteil der neuen Studie, dass die Qualität der Daten nun auf höchstem Niveau ist – denn nur so lassen sich methodische Probleme bei den neuen computergestützten Verfahren sicher ermitteln.
„Bei den meisten phylogenetischen Vorgängerstudien gleicher Art war die Datenqualität problematisch, so dass bei unerwarteten Problemen der Auswertung schwer zu klären war, ob die Methodik oder die Datenbasis die Ursache waren“, erläutert Kümmel. „Dieses Problem sollte nun ausgeräumt sein, so dass die Vor- und Nachteile verschiedener Modellierungsverfahren genauer erforscht werden können.“
Ermitteltes Alter der Proto-Indogermanischen Ursprache etwa 8.100 Jahre
Das Team verwendete eine neuartige Bayes'sche phylogenetische Analyse, um zu prüfen, ob alte geschriebene Sprachen, wie das klassische Latein und das vedische Sanskrit die direkten Vorfahren der modernen gesprochenen (romanischen bzw. indischen) Sprachen sind. Russell Gray, Direktor der Abteilung für Sprach- und Kulturevolution und Hauptautor der Studie, betont: „Unsere Chronologie ist über eine Vielzahl von alternativen phylogenetischen Modellen und Sensitivitätsanalysen hinweg robust.“ Die Forschenden schätzten so das Alter des Proto-Indogermanischen auf etwa 8.100 Jahre, wobei sich fünf Hauptzweige bereits vor etwa 7.000 Jahren abspalteten.
Diese Ergebnisse stimmen weder mit der Steppen- noch mit der Ackerbauhypothese völlig überein. Der Erstautor der Studie, Paul Heggarty, stellt fest: „Jüngste DNA-Daten weisen darauf hin, dass der anatolische Zweig des Indogermanischen nicht aus der Steppe stammt, sondern von weiter südlich, im oder nahe dem nördlichen Bogen des Fruchtbaren Halbmonds – als früheste Quelle der indogermanischen Familie. Die Topologie unseres Sprachstammbaums und die Daten der Stammbaumaufspaltung deuten auf andere frühe Zweige hin, die sich ebenfalls direkt von dort und nicht über die Steppe verbreitet haben könnten.“
Neue Erkenntnisse aus Linguistik und Genetik
Die Autoren der Studie schlugen daher eine neue hybride Hypothese für den Ursprung der indogermanischen Sprachen vor, mit einer endgültigen Urheimat südlich des Kaukasus und einer anschließenden Verzweigung nach Norden in die Steppe als sekundäre Heimat für einige Zweige des Indogermanischen, die mit den späteren Jamnaja- und Schnurwaren-assoziierten Expansionen nach Europa kamen. „Alte DNA und Sprachphylogenetik legen somit nahe, dass die Lösung des 200 Jahre alten indogermanischen Rätsels in einer Mischung aus der Ackerbau- und der Steppenhypothese liegt“, so Gray.
Wolfgang Haak, Gruppenleiter in der Abteilung für Archäogenetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, fasst die große Bedeutung der neuen Studie zusammen: „Abgesehen von einer verfeinerten Zeitschätzung für den gesamten Sprachbaum sind die Baumtopologie und die Verzweigungsreihenfolge von entscheidender Bedeutung für die Übereinstimmung mit archäologischen Schlüsselereignissen und sich verändernden Abstammungsmustern, wie sie in den Genomdaten damals lebender Menschen zu finden sind. Dies ist ein großer Schritt weg von den sich gegenseitig ausschließenden, früheren Szenarien hin zu einem plausibleren Modell, das archäologische, anthropologische und genetische Erkenntnisse integriert.“
Originalpublikation:
Paul Heggarty, Cormac Anderson, Matthew Scarborough, Benedict King, Remco Bouckaert, Lechosław Jocz, Martin Joachim Kümmel, Thomas Jügel, Britta Irslinger, Roland Pooth, Henrik Liljegren, Richard F. Strand, Geoffrey Haig, Martin Macák, Ronald I. Kim, Erik Anonby, Tijmen Pronk, Oleg Belyaev, Tonya Kim Dewey-Findell, Matthew Boutilier, Cassandra Freiberg, Robert Tegethoff, Matilde Serangeli, Nikos Liosis, Krzysztof Stronski, Kim Schulte, Ganesh Kumar Gupta, Wolfgang Haak, Johannes Krause, Quentin D. Atkinson, Simon J. Greenhill, Denise Kühnert, Russell D. Gray (2023): Language trees with sampled ancestors support a hybrid model for the origin of Indo-European languages. Science, DOI: 10.1126/science.abg0818Externer Link
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