- Forschung
Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Aussagen von Augenzeuginnen und -zeugen sind eine der wichtigsten Quellen, um Täterinnen und Täter zu identifizieren – und sie sind eine der fehleranfälligsten. Das Innocence Project – eine Organisation, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern in den USA bemüht – gibt beispielsweise an, dass in 64 Prozent der Fälle, in denen sie die Freilassung falsch Verurteilter erwirken konnte, fehlerhafte Augenzeugenaussagen eine Rolle gespielt haben. Um herauszufinden, warum Augenzeuginnen und -zeugen so häufig danebenliegen, ist weitere Forschung notwendig, für die es umfangreiches Anschauungsmaterial braucht. Die Psychologin Ulrike Kruse von der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat dieses nun erstellt und dafür eine ungewöhnliche Methode gewählt: Sie hat eigene Mini-Krimis gedreht. Über ihre Arbeit berichtet sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Stefan R. Schweinberger in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins PLOS ONE.
„Ich beschäftige mich seit Jahren intensiv mit dem Thema und musste immer wieder feststellen, dass Material für Studien auf diesem Gebiet kaum vorhanden ist, da Abbildungen meist datenrechtlich geschützt sind und nicht so einfach weitergegeben werden können“, sagt Ulrike Kruse. „Deshalb habe ich mich entschlossen, selbst sogenannte Stimuli zu erstellen, sie für eigene Untersuchungen zu verwenden und vor allem Kolleginnen und Kollegen weltweit zur Verfügung zu stellen.“ Zu diesem Zweck hat die Psychologin mit der Unterstützung von Laienspielgruppen sechs kurze Filmsequenzen gedreht, in denen kleine Vergehen szenisch nachgestellt sind, beispielsweise ein Taschendiebstahl in einem gut besuchten Park. Um für Studien Virtual-Reality(VR)-Methoden einsetzen zu können und so die Augenzeugensituation noch realistischer zu gestalten, kam hierbei auch 3D-Technik zum Einsatz.
Zum Verwechseln ähnlich
Im nächsten Schritt suchte die Jenaer Forscherin 16 Personen, die den Tätern im Film ähnlich sehen, um sie für simulierte Gegenüberstellungen zu fotografieren und ebenfalls Porträts in 3D zu erfassen. „Ich habe Flyer erstellt, über Social Media recherchiert und Leute persönlich angesprochen. Insgesamt hat diese Phase die meiste Zeit in Anspruch genommen“, sagt Ulrike Kruse, die für das Projekt insgesamt rund ein Jahr aufgewendet hat.
Der Aufbau der Fotodatenbank dauerte auch deshalb so lange, da die Psychologin objektiv überprüfen ließ, ob sich die Männer tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sahen. Dafür schauten sich mehrere Personen die Filme an und lieferten danach eine schriftliche Täterbeschreibung ab. In einer Online-Befragung identifizierten dann 130 sogenannte Scheinzeuginnen und -zeugen durch Ansicht der Fotos denjenigen, der auf die Merkmale passte. „Bei einem solchen sogenannten Fairness-Test werden im besten Fall alle Personen in dieser virtuellen Gegenüberstellung einige Male ausgewählt, weil alle auf die Beschreibung passen müssten. In diesem Fall hat das sehr gut geklappt“, erzählt Ulrike Kruse.
Augenzeuge in der virtuellen Realität
Die Jenaer Psychologin verwendete das Material schließlich zunächst für die eigene Forschung. Im Rahmen ihrer Promotion geht sie beispielsweise der Frage nach, ob Menschen, die sich generell gut Gesichter merken können, auch gute Augenzeuginnen und -zeugen sind. „Wenn dem so ist, könnte man – vereinfacht gesagt – Zeuginnen und Zeugen vor Gericht einem allgemeinen Test zu ihren Fähigkeiten in diesem Bereich unterziehen und so ihre Glaubwürdigkeit besser einschätzen“, erklärt sie. Abschließende Ergebnisse dazu stehen aber noch aus.
Mit dem von ihr erstellten Anschauungsmaterial bewegt sich die Jenaer Forscherin auf ganz neue Pfade, denn bisher gibt es kaum Studien, in denen sich die Probandinnen und Probanden für ihre Rolle als Augenzeuginnen oder -zeugen per VR-Brille in die virtuelle Realität begeben haben. „Bisher hat sich herausgestellt, dass es sehr schwierig ist, seine Aufmerksamkeit aufrechtzuhalten, wenn man voll in die Situation eintaucht“, berichtet Ulrike Kruse. „In einem Experiment beispielsweise zeigte weniger als ein Fünftel von 68 Versuchspersonen eine korrekte Erkennungsleistung.“ Weitere Forschung in diesem Bereich sei deshalb dringend notwendig.
Original-Publikation:
U. Kruse, S. R. Schweinberger: „The Jena Eyewitness Research Stimuli (JERS): A database of mock theft videos involving two perpetrators, presented in 2D and VR formats with corresponding 2D and 3D lineup images“, PLOS ONE, 2023; https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0295033Externer Link