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Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1923, wurde die Pädagogin Mathilde Vaerting an die Universität Jena berufen – seit dem heutigen Freitag (3.11.) erinnert eine Gedenktafel im Universitätshauptgebäude (Fürstengraben 1) an die damit erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität. Mit der Initiative zollt die Universität gemeinsam mit der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG) der Pädagogin den Respekt, der ihr während ihrer Zeit an der Universität Jena selbst verwehrt blieb. Das Ministerium für Volksbildung hatte sie gegen den Willen der damaligen Universitätsleitung an die Universität berufen – ihre knapp zehn Jahre in Jena waren geprägt von Schikanen und Anfeindungen.
Mit dieser Gedenktafel rücken wir die Pionierin Mathilde Vaerting ins Licht, die als erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität Geschichte schrieb. Im Vergleich zu Margarete von Wrangell, die im selben Jahr als erste Professorin an eine landwirtschaftliche Hochschule berufen wurde, ist Vaerting jedoch nur wenig bekannt. Dies liegt auch daran, dass die Nationalsozialisten ihr die Professur nahmen. Es wird höchste Zeit, dass wir ihrer gedenken und insbesondere die Wissenschaftlerin würdigen, die mit vielen ihrer Studien und Forschungsansätzen ihrer Zeit weit voraus war.
Prof. Dr. Georg Pohnert, vorläufiger Leiter der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Mathilde Vaerting war in allen Bereichen ihres akademischen Wirkens eine Pionierin. In ihren Geschlechterstudien analysierte sie scharf die Strukturen ihrer Zeit und setzte emanzipatorische Impulse. Als erste ordentliche Professorin an der Universität Jena forderte sie den konservativen Kreis der alten Eliten heraus und stieß auf deren erheblichen Widerstand. Mathilde Vaerting war Wegbereiterin für ganze Forschergenerationen, ihre Beharrlichkeit und ihr Mut können uns auch heute noch Vorbild sein.
Dr. Christian Faludi, Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG)
Symposium „Mathilde Vaerting – Signaturen einer demokratischen Pädagogik“
Die Tafelsetzung war der Auftakt für weitere an der Universität Jena geplante Veranstaltungen: Am 13. November um 14 Uhr lädt das Institut für Bildung und Kultur zum Symposium „Mathilde Vaerting – Signaturen einer demokratischen Pädagogik“Externer Link ein (um Anmeldung per E-Mail an sarah.elisabeth.ganss@uni-jena.de wird gebeten). Vaerting, so erklärt Sarah Elisabeth Ganss, die das Symposium organisiert, habe das Verhältnis von Gesellschaft, Macht und Herrschaft untersucht und wissenschaftliche Disziplinen wie die Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie in damals einzigartiger Weise miteinander verbunden. „Sie beschrieb gesellschaftliche Ungleichheiten und räumte beispielsweise mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen auf.“ So habe sie nachgewiesen, dass Mädchen und Jungen gleich an Begabung sind und damit den Zuschreibungen der Zeit widersprochen, die etwa Frauen unterstellen, in mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichen weniger talentiert zu sein als Männer. Sie forderte eine Gleichbehandlung, um auch eine demokratische Bildung zu ermöglichen. „Vaerting hat viele Ansätze vorweggenommen, die wir heute beispielsweise in der Geschlechterforschung wiederfinden“, sagt Sarah Ganss.
Antrittsvorlesung und Podiumsdiskussion mit Minister Wolfgang Tiefensee
Am 28. November um 18 Uhr wird Schauspielerin Johanna Geißler vom Deutschen Nationaltheater in der Aula der Universität die Antrittsvorlesung Mathilde VaertingsExterner Link vortragen. Daran schließt sich eine Podiumsdiskussion mit dem Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft Wolfgang Tiefensee, der Historikerin Annette Weinke, der Pädagogin Bärbel Kracke (beide Universität Jena) und Christian Faludi von der GEDG an.
„Die Berufung Mathilde Vaertings erfolgte nicht durch die Initiative der Universität, sondern durch den damaligen Thüringer Minister für Volksbildung Max Greil“, sagt Dr. Christian Faludi von der GEDG. Die Universitätsleitung sah in dem Vorgang einen Affront. „Zum einen sah sie darin einen Eingriff in die universitäre Autonomie, zum anderen lehnte die Mehrzahl der Professoren eine Frau auf einem Lehrstuhl ab, den sie zudem als unnütz empfand.“ Und auch die überwiegend männliche Studierendenschaft lehnte Vaerting ab. Infolgedessen war sie vor allem Anfeindungen ausgesetzt. Wortführer der Gegner wurde der bekannte Antisemit Ludwig Plate, der unter anderem 1930 eine Schmähschrift gegen Vaerting mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ publizierte.
Biografisches: Wer war Mathilde Vaerting?
Mathilde Vaerting, geboren 1884 im Emsland, studiert Naturwissenschaften und Philosophie und wird 1911 in Bonn im philosophischen Bereich promoviert. Nach ihrem Studium arbeitet sie als Lehrerin in Berlin, forscht nebenbei und besucht Lehrveranstaltungen in der Medizin und der Soziologie. Ihre Forschungsarbeiten richten sich schon früh gegen etablierte Lehrmeinungen und Unterrichtspraktiken, etwa wenn sie sich gegen das Auswendiglernen als Unterrichtsmethode und für eine Gleichberechtigung zwischen Lehrenden und Lernenden ausspricht. Zudem widmet sie sich zunehmend einem Wissenschaftsbereich, den es zu diesem Zeitpunkt kaum gibt: der Geschlechterforschung. Mathilde Vaerting stellt dabei klar heraus, dass das Geschlecht bei der Bildung keine Rolle spielt. Mädchen sind in naturwissenschaftlichen Bereichen nicht weniger begabt als Jungen. Unterschiede entstehen nur durch verschiedene gesellschaftliche Machtpositionen – angeblich geschlechtsspezifische Eigenschaften sind ein Resultat von Herrschaftsverhältnissen. Sie verbindet auf diese Weise pädagogische, psychologische und soziologische Ansätze miteinander und öffnet den Weg für neue wissenschaftliche Fragestellungen.
Ihre Habilitationsschrift, die sie 1919 an der Universität Berlin einreicht, wird nicht zuletzt wegen Vorbehalten gegen das Forschungsgebiet abgelehnt. Trotzdem beruft sie der damalige Thüringer Minister für Volksbildung Max Greil 1923 im Rahmen einer umfassenden Reform des Thüringer Schulwesens als Professorin für Pädagogik an die Universität Jena. Die Leitung sieht darin einen Eingriff in ihre Autonomie – erst recht, da hier erstmals eine Frau einen Lehrstuhl an einer Universität besetzt. Kollegen sprechen ihr die fachliche Eignung ab. Der Zoologe und Antisemit Ludwig Plate veröffentlicht sogar eine Schmähschrift mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ gegen sie. Ihr Kollege Peter Petersen, der ebenfalls von Greil nach Jena berufen worden ist, sieht sich weitaus weniger behelligt.
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 verliert Mathilde Vaerting ihre Professur und wird vom Hochschuldienst ausgeschlossen. Sie zieht zurück nach Berlin. Ein Ausreiseverbot verhindert, dass sie Rufe an Universitäten in den Niederlanden oder den USA annehmen kann. Ein Publikationsverbot verhindert das Fortführen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt ihr die Rückkehr an eine Universität verwehrt. Sie wendet sich der Staatssoziologie zu, kann aber nicht mehr Fuß fassen in der Wissenschaft. Mathilde Vaerting stirbt am 6. Mai 1977 in Schönau im Schwarzwald. Seit den 1990er Jahren wird ihr Werk wiederentdeckt. Heute gilt sie als wenig bekannte aber nicht weniger bedeutende Vorreiterin einer Pädagogik, die gesellschaftlichen Machtverhältnissen und der Wirkung von Differenzkategorien Rechnung trägt.