Meldung vom: | Verfasser/in: Stephan Laudien
In der therapeutischen Praxis ist die Psychoanalyse als wissenschaftliches Verfahren anerkannt, hingegen gilt sie im universitären Wissenschaftsbetrieb als Inbegriff von Unwissenschaftlichkeit. Wie es zu diesem Paradoxon kam, das wollen Prof. Dr. Tilman Reitz und seine Kollegin Dr. Mariana Schütt von der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemeinsam mit Prof. Dr. Lisa Malich von der Universität Lübeck erforschen. Die „VolkswagenStiftung“ hat für ihr Projekt „Unerwünschtes Wissen: Zum Ausschluss der Psychoanalyse aus den Psy-Sciences in Westdeutschland, Großbritannien und den USA, 1950 - 1990“ eine Förderung von rund 315.000 Euro bewilligt. Das Projekt startet in Jena am 1. Juni und hat eine Laufzeit von anderthalb Jahren.
Die Erfolge der Psychoanalyse trugen wohl zu ihrem Misserfolg bei
„Wir sehen schon in den 1920er und 30er Jahren, dass sich in der Psychologie andere Richtungen durchsetzen“, sagt Prof. Dr. Tilman Reitz. In Deutschland habe sich die Wahrnehmungspsychologie nach Wilhelm Wundt etabliert, in den USA trat der Behaviorismus seinen Siegeszug an. Angesagt war Verhaltenspsychologie und Konditionierung, wie sie Iwan Pawlow gelehrt hatte. Der Psychoanalyse hingegen, so vermuten Tilman Reitz und seine Kolleginnen, habe womöglich ihre kulturelle, politische und geisteswissenschaftliche Wirkmächtigkeit im akademischen Milieu eher geschadet. „Wir sehen von Anfang an einen regelrechten Abwehrreflex gegen die Lehre Freuds“, sagt Prof. Reitz. Die Forschungsgruppe nimmt nun die Entwicklungen in Deutschland, Großbritannien und USA vergleichend in den Blick, um so national spezifische und darüber hinaus allgemeine Erklärungen für die akademische Nicht-Etablierung der Psychoanalyse zu gewinnen. Konkret heiße das, zunächst eine Gesamt-Bestandsaufnahme vorzunehmen und dann einzelne Institute anzuschauen, so der Jenaer Soziologe. Aufschlussreich könnten beispielsweise Berufungsverfahren sein, die konkrete Frage, weshalb Verfechter der Psychoanalyse „draußen“ gelassen wurden.
Vorstoß an die Grenzen der Wissenschaftlichkeit selbst
Wissenschaftshistorisch sei es auch in anderen Disziplinen spannend zu ergründen, weshalb sich bestimmte Lehren gegenüber anderen durchgesetzt haben, sagt Prof. Reitz. In den Wirtschaftswissenschaften sei das am Beispiel der neoklassischen Theorie gegenüber den Ideen von Karl Marx zu hinterfragen. Im Falle der Freud’schen Lehre sollen in dem neuen Forschungsprojekt psychoanalytische, wissenssoziologische und psychologiehistorische Kenntnisse und Herangehensweisen verbunden werden. „Wir wollen uns an die Grenze wagen, an der Wissenschaftlichkeit selbst zur Diskussion steht und hoffen so eine Lücke in der Wissenschaftsforschung zu schließen“, sagt Tilman Reitz.