Seminar mit einer heterogenen Gruppe von Studierenden

Lehre NACHGEFRAGT

Newsletter für Lehre an der Uni Jena Ausgabe 03 2024
Seminar mit einer heterogenen Gruppe von Studierenden
Foto: Cecilie Arcurs, istock

Sieben Fragen an Prof. Dr. Bärbel Kracke zum Thema Umgang mit Inklusion und Diversität als Mehrwert im universitären Lehralltag

Prof. Dr. Bärbel Kracke ist Inhaberin des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und forscht unter anderem zum Thema Inklusionskompetenz in der Lehrer- und Lehrerinnenbildung. Als ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Universität Jena setzt sie sich seit langem für die Anerkennung der Geschlechtergerechtigkeit ein. Zudem engagiert sich Professorin Kracke in der jüngeren Vergangenheit auch für einen sensiblen Umgang mit den Bedürfnissen unterschiedlicher Personengruppen an der Universität Jena. Im Interview wollen wir von ihr wissen, wie sich Inklusion in universitären Lehrveranstaltungen umsetzen lässt und welchen Mehrwert die Offenheit für Diversität in der Hochschullehre bringt.

Prof. Dr. Bärbel Kracke

Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Das Leitbild der Universität Jena würdigt „Inklusion und Diversität als Basis unserer lebendigen und innovativen universitären Gemeinschaft“. Damit einhergehend haben Lehrende die Aufgabe, ihre Studierenden unabhängig von ihren individuellen und sozialen Lebenshintergründen chancengerecht und diskriminierungsfrei zu unterrichten und sie in der Entfaltung ihrer Potentiale zu fördern. Bei Gruppenarbeiten geht es darum eine respektvolle, sich gegenseitig bereichernde und konstruktive Zusammenarbeit zu unterstützen.  Mögliche Konflikte und Vorkommnisse von Benachteiligungen sollen in einem geschützten Rahmen thematisiert und (sexueller) Belästigung und Gewalt klar entgegengetreten werden. Diese Anforderungen umzusetzen, erfordert ein vertieftes Verständnis unterschiedlicher Diskriminierungsformen und deren Zusammenwirken sowie geeigneter Handlungsstrategien.

Was bedeutet inklusive und diversitätsorientierte Lehre im Allgemeinen und wie spielen mögliche Diskriminierungsformen zusammen?

Sehr allgemein kann man sagen, dass sich inklusive und diversitätsorientierte Lehre auf pädagogische Ansätze und Praktiken bezieht, die darauf abzielen, eine Lernumgebung zu schaffen, in der alle Studierenden unabhängig von ihrem sozio-kulturellen Hintergrund, ihren individuellen Besonderheiten im Lernen und ihren Unterstützungsbedarfen die Möglichkeit haben, ihre Potenziale bestmöglich zu entfalten. Diese Form der Lehre geht über die bloße Anerkennung von Unterschieden hinaus und setzt sich aktiv dafür ein, Barrieren abzubauen, die bestimmte Gruppen benachteiligen könnten.

Für den schulischen Kontext existieren bereits viele Überlegungen und konkrete Umsetzungen, wie eine inklusive Schule gestaltet sein sollte. Dabei geht es immer um die unterschiedlichen Systemebenen: Organisation, Kollegium, Unterricht. Nach und nach ziehen diese Überlegungen auch in die Lehrer:innenbildung an den Hochschulen ein. Im universitären Kontext ist die Entwicklung einer inklusiven Hochschullehre noch nicht so weit fortgeschritten. Wie im schulischen Kontext muss inklusive Hochschulentwicklung auf jeden Fall systemisch gedacht werden. Allein auf der Ebene der Lehre lassen sich Inklusion und Diversitätsorientierung nicht realisieren. Universitäten müssen auf allen Ebenen: Leitung, Verwaltung, Forschung und Lehre sowie in Bezug auf bauliche und technische Voraussetzungen barrierefrei sein.

Das bedeutet in Bezug auf die Haltung, dass Diversität nicht als Bedrohung, sondern als Chance und Bereicherung wahrgenommen wird. Das ist aber sehr voraussetzungsreich. Alle Menschen haben Vorurteile. Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein und daran zu arbeiten, dass sie nicht behindernd für das Erreichen wichtiger Ziele wie die Gewinnung von Studierenden, Mitarbeitenden in Verwaltung, Forschung und Lehre wirken. Mit dieser Frage haben wir (Anke Hildebrandt, Alexander Zwickies und ich) uns im Gleichstellungsbüro vor einiger Zeit auseinandergesetzt und haben einen Selbstlernkurs zum „Unconsious Bias“ in Berufungs- und Bewerbungsverfahren entwickelt.

Auch für den Umgang mit Studierenden müssen sich in einer inklusions- und diversitätssensiblen Universitätskultur Lehrende ihrer Vorurteile z.B. in Bezug auf die Bedeutung deren soziö-ökonomischen, kulturellen Hintergrunds oder des Geschlechts bzw. der Geschlechtsidentität bewusstwerden und ggf. ihr Verhalten ändern. Zum Beispiel haben wir als Gleichstellungsbeauftragte in unseren Beratungen von Studierenden nicht selten davon gehört, dass in bestimmten Fächern die häufige Verwendung von genderstereotypen Beispielen demotivierend für die Auseinandersetzung mit den Inhalten wirkt und damit der Lernerfolg beeinträchtigt wird. Auch dass sich Studierende, die als erste in der Familie einen akademischen Weg beschreiten, zum Teil unsicher und sich aufgrund ihrer Zurückhaltung nicht gesehen fühlen, wird berichtet. Auf jeden Fall werden durch unsensible Verhaltensweisen Studierende abgeschreckt, sich zu beteiligen oder sich längerfristig für ein Fach zu engagieren. Damit schöpft man das Potenzial der Studierendenschaft nicht aus und reproduziert eine ausgrenzende Fachkultur.

Daher sollte in der Universität grundsätzlich der wertschätzende und offene Umgang mit Vielfalt thematisiert werden und Lehrenden die Gelegenheit gegeben werden, Möglichkeiten für diversitätssensible Lehre kennenzulernen und Unterstützung bei der Umsetzung solcher Ansätze zu erhalten.

Was bedeutet inklusive und diversitätsorientierte Lehre konkret?

Inklusive und diversitätsorientierte Lehre bedeutet konkret, dass alle Studierenden Zugang zu den gleichen Lernmöglichkeiten haben, dass z.B. Literatur oder Labore barrierefrei zugänglich sind. Diversitätsorientierte Lehre ermöglicht auch, sich mit verschiedenen kulturellen, historischen und sozialen Perspektiven auf einen Gegenstand auseinander zu setzen. Zudem ermöglicht inklusive und diversitätssensible Lehre eine Seminarkultur zu schaffen, in der sich alle Studierenden sicher und respektiert fühlen. Dabei sollten möglichst alle Studierenden ermutigt werden, ihre Meinung zu äußern.

Wie spielen mögliche Diskriminierungsformen zusammen?

Verschiedene Formen von Diskriminierung können sich überschneiden und verstärken, was als Intersektionalität bezeichnet wird. Dieser Begriff beschreibt, wie verschiedene Identitätsmerkmale wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, sexuelle Orientierung, Behinderung und Religion miteinander interagieren und zusammenwirken, um einzigartige Formen der Diskriminierung und Benachteiligung zu erzeugen. Zum Beispiel kann in männlich dominierten Fachkulturen die Tatsache, eine Frau zu sein, ein erstes Problem bedeuten. Wenn dann noch Unerfahrenheit mit der akademischen Kultur und etwa kulturelle Besonderheiten, die z.B. soziale Interaktionen beeinflussen, dazukommen, kann es bei unsensiblem Umgang mit diesen potenziellen Barrieren dazu kommen, dass ein ursprüngliches inhaltliches Interesse am Fach und eine Begabung, die zur Fachwahl geführt hat, nicht entwickelt werden. 

Gibt es bestimmte didaktische oder methodische Elemente, die sich besonders gut für die Umsetzung inklusiver und diversitätsorientierter Lehre eignen?

Zentral ist der barrierefreie Zugang zu Literatur und Laboren. Darüber hinaus kann das Arbeiten in heterogenen Gruppen den Austausch unterschiedlicher Perspektiven fördern. Dies ist allerdings häufig kein Selbstläufer und muss von den Lehrenden begleitet werden. Bei der Auswahl der Seminarinhalte sollte die Vielfalt der Studierenden berücksichtigt werden. Dies kann bedeuten Texte, Bilder und Beispiele auszuwählen, die verschiedene kulturelle Hintergründe, Geschlechter, Altersgruppen und Lebensrealitäten repräsentieren. Wenn möglich, sollten Materialien in verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt werden, um sprachliche Barrieren zu überwinden. Darüber hinaus sollten Studierende verschiedene Wege haben, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu demonstrieren (z.B. durch mündliche Präsentationen, schriftliche Arbeiten, Projekte).

Schließlich sollten sich Lehrende regelmäßig Feedback von Studierenden einholen, um zu verstehen, wie inklusiv und diversitätssensibel ihre Lehrpraxis ist.

Welche Herausforderungen mit der Thematik rund um Diversität und Inklusion sehen Sie?

Insgesamt ist der Umgang mit Diversität und Inklusion aufgrund der vielfältigen Diversitätsdimensionen und der Vielfalt der unterschiedlichen Bedürfnisse von Studierenden und Mitarbeitenden sehr komplex. Es besteht die Gefahr, dass man nicht allen Gruppen gleichermaßen gerecht wird.

Die wichtigsten Herausforderungen für eine diversitäts- und inklusionssensible Hochschulentwicklung, die sich dann auch in der Lehre niederschlägt, sehe ich in den oben bereits erwähnten unbewussten Vorurteilen (Unconscious Bias) sowie Widerständen, die z.B. darin liegen, dass sich Menschen gegen Veränderungen sträuben, weil sie das Gefühl haben, dass ihre eigene Kultur oder Identität durch Inklusionsmaßnahmen marginalisiert wird. Das sehen wir ja zum Beispiel in Bezug auf die Debatte um gendersensible Sprache oder die Frage, ob es biologisch mehr als zwei Geschlechter geben kann. Auch Angst vor Unbekanntem oder die Befürchtung, man kann den mit der Veränderung einhergehenden Anforderungen (z.B. an Sprachkompetenz, Umgang mit neuen Medien, Beratung von Studierenden) nicht gerecht werden.

Darüber hinaus erfordert eine Veränderung von Routinen in Organisationen oder in der Lehre Ressourcen, darunter Zeit, Geld und Personal. Das haben wir sehr gut am Beispiel der Lehre unter Corona-Bedingungen gesehen. Hier wurden an der FSU u.a. – wenn auch temporär - zusätzliche Stellen für die Unterstützung digitaler Lehre geschaffen, was im Endeffekt insgesamt längerfristig zu einem positiven Digitalisierungsschub beigetragen hat. Schließlich muss man sich darüber verständigen, was die konkreten Ziele der Hochschule im Bereich Inklusion und Diversität sind und wie Fortschritte im Prozess erfasst werden können.

Auf jeden Fall erfordern Diversitäts- und Inklusionsinitiativen langfristiges Engagement und kontinuierliche Anstrengungen. Daher müssen sie fest in die Organisationskultur integriert sein. Dabei spielen die Beauftragten für Gleichstellung und Diversität sowie die Vertretung für Schwerbehinderte und die Engagierten von der Servicestelle LehreLernen eine zentrale Rolle. Diese Menschen können aber nur wirksam sein, wenn die Hochschulleitung Diversitäts- und Inklusionssensibilität lebt und immer wieder als gemeinsame Grundlage für die Hochschulkultur thematisiert.

 Wie kann die mit Diversität und Inklusion einhergehende Perspektivenvielfalt die Lehre bereichern?

Studierende aus unterschiedlichen kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen können idealerweise einzigartige Perspektiven und Lebenserfahrungen in Diskussionen einbringen. Dies kann ein tieferes Verständnis der Lehrinhalte nach sich ziehen und ermöglichen, Themen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen und Ansichten kann kritisches Denken anregen. Zudem erfordert die Arbeit in diversen Gruppen Zusammenarbeit, Respekt und Toleranz. Studierende können dabei lernen, wie sie effektiv mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe kommunizieren und zusammenarbeiten können. Nicht zuletzt kann eine Lernumgebung, die Vielfalt und Inklusion wertschätzt, dazu beitragen, eine Atmosphäre des Respekts und der Akzeptanz zu schaffen, in der sich Studierende sicherer fühlen und dann eher bereit sind, ihre Ideen und Meinungen zu teilen. Aus Studien in Schulen ist bekannt, dass Lehrende, die Vielfalt aktiv fördern, ein positives Beispiel für die Lernenden sind und einen offeneren und toleranteren Umgang in der Klasse fördern.

Für Studierende kann eine positive Erfahrung im Umgang mit Diversität und Inklusion in der Hochschule auch bedeutsam für ihr späteres Berufsleben sein. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebensrealitäten, Kulturen und Perspektiven im Studium kann Studierende auf die Zusammenarbeit in heterogenen Teams vorbereiten, indem Empathie und das Verständnis für die Herausforderungen, mit denen Menschen aus unterschiedlichen Kontexten konfrontiert sind, gefördert werden.

Was würden Sie Lehrenden raten, die den Wunsch haben, eine positive Lernumgebung für alle Studierenden ganz gleich welcher Nationalität, Religion, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder welchen Geschlechts zu schaffen?

Lehrende sollten ihre eigenen Vorurteile und unbewussten Vorurteile reflektieren und sich aktiv bemühen, diese zu überwinden. Sie sollten eine respektvolle Sprache verwenden, die alle Studierenden anspricht, und eine Atmosphäre schaffen, in der unterschiedliche Meinungsäußerungen und konstruktive Diskussionen möglich sind. Lehrende sollten aktiv auf Studierende zugehen, die Unterstützung benötigen könnten, und ihnen gezielt Hilfe anbieten bzw. sie auf Hilfsangebote verweisen.

Kontakt

  1. Kracke, Bärbel, Univ.-Prof. Dr. Professur Pädagogische Psychologie

    Raum 119
    Am Planetarium 4
    07743 Jena

    Sprechzeiten:
    Dienstag 8:00-10:00 Uhr

    Anmeldung per Email mit Angabe des Anliegens bei cathrin.burkhardt@uni-jena.de.

    Prof. Dr. Bärbel Kracke
    Foto: Jürgen Scheere (Universität Jena)

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