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Meldung vom: | Verfasser/in: Sebastian Hollstein
Im Jahr seines 250. Geburtstages am 5. September 2024 ist Caspar David Friedrich so gefragt wie nie: Ausstellungen seiner Bilder verzeichnen Rekord-Besucherzahlen. Eine Vielzahl an Schriften über Friedrichs Leben erobert den Buchmarkt und sogar die Bestsellerlisten. Das Feuilleton diskutiert über neue Lesarten seines Werks und seiner Person. Ein wichtiges Zentrum dieses Jubiläumsgeschehens ist dabei die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zum einen fließt aktuelle Jenaer Forschung in verschiedene Initiativen ein – zum anderen inspiriert die Beschäftigung mit dem Künstler ein geplantes Exzellenzcluster der Universität Jena.
So unterstützte die „Forschungsstelle Europäische Romantik“ der Universität Jena die große Schau in der Hamburger Kunsthalle zu Beginn des Jahres als wissenschaftlicher Kooperationspartner – der Jenaer Friedrich-Experte Prof. Dr. Johannes Grave selbst war einer von zwei Kuratoren. Der Kunsthistoriker schrieb zudem Katalogbeiträge für die weiteren großen Ausstellungen 2024 in Berlin und Dresden. „Es ist sehr bereichernd zu sehen, wie Caspar David Friedrich aus sehr verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen wird und auch heute noch ein begeistertes Publikum findet“, sagt Johannes Grave über seine Eindrücke während des Jubiläumsjahrs. „Selbst für mich eröffnen sich neue Facetten, wenn man ausleuchtet, welche Antworten Friedrich und seine Kunst auf heutige Fragestellungen geben kann.“
Ausstellung über Caspar David Friedrich und Weimar kommt
Derzeit bereitet Johannes Grave mit Kolleginnen und Kollegen die Ausstellung „Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar“ vor, die vom 22. November 2024 bis zum 2. März 2025 im Weimar zu sehen sein wird. „Wir unternehmen damit eine Tiefenbohrung auf die Verbindung Friedrichs mit Weimar“, erklärt Grave. Gerade Goethe sei für Friedrich immer ein Referenzpunkt gewesen – auch wenn beide ein ambivalentes Verhältnis zueinander pflegten. Der 25 Jahre ältere Dichterfürst habe den Maler gefördert und ihm 1805 eine erste wichtige Auszeichnung verliehen. Später habe der Weimarer Herzog mehrfach Werke angekauft. Zwar löste sich die Bindung nach Weimar ab 1812, andere Bezugspunkte wurden für Friedrich wichtiger, aber sie riss nie ab. „Exponate wie Gemälde Friedrichs aber auch Porzellan, das seine Motive wiedergibt, veranschaulichen in der Ausstellung das reiche und veränderbare Verhältnis zwischen Weimar und dem Maler“, informiert Johannes Grave. „Mit dieser Schau wollen wir dafür werben, wie dynamisch und kreativ die Situation im frühen 19. Jahrhundert war. In der Rückschau verstellen starre Kategorien wie Klassik und Romantik den Blick für die Spielräume des Denkens, die auch wir heute eigentlich haben und die die Protagonistinnen und Protagonisten um 1800 umso entschiedener ergriffen.“
Sämtliche Schriften erstmals präzise aufgearbeitet
Bereits im Oktober erscheint eine von Johannes Grave, Petra Kuhlmann-Hodick und Johannes Rößler erarbeitete Edition der schriftlichen Zeugnisse Friedrichs. Zum ersten Mal sind damit sämtliche Briefe und Schriften des Künstlers philologisch präzise aufgearbeitet, kommentiert und mit umfangreichen Sachinformationen angereichert. Neben Briefen, Gedichten und tagebuchartigen Auszügen enthält der Band wichtige theoretische Schriften, etwa einen längeren Text, in dem Friedrich einzelne anonymisierte Bilder beschreibt und sich zu ihnen äußert, was Rückschlüsse auf sein Kunstverständnis und sein Selbstbewusstsein als Künstler zulässt.
Geplantes Exzellenzcluster „Imaginamics“
Ein guter Maler solle zu „Gedanken, Gefühlen und Empfindungen“ anregen – „und wären sie auch nicht die seinen“, schrieb Friedrich einmal. Darin liegt vielleicht eines der Geheimnisse für seine anhaltende Popularität. „In seinen Gemälden gibt es einen bestimmten Grad an Unbestimmtheit – man sieht sofort, dass da mehr ist als nur die Wiedergabe einer bloßen Landschaft“, sagt der Jenaer Kunsthistoriker Grave. „Um welchen tieferen Sinn es genau geht, das bleibt dabei aber ziemlich offen. Vielmehr bietet der Maler eine weite Projektionsfläche, die sogar völlig widersprüchliche Deutungen zulässt. Wahrscheinlich hat es Friedrich genau darauf angelegt: Er wollte die Menschen ins Imaginieren bringen.“
Damit aktiviert der Künstler noch heute einen Prozess, der von jeher als Schlüssel zur Welt dient. Um uns einen Sachverhalt zu erschließen, entwickeln wir bildliche Vorstellungen, die dichter und reicher sind, als es der jeweilige Sachverhalt eigentlich erfordert. „Permanent schaffen wir Bilder, weil wir das, was wir erfahren und worüber wir nachdenken, in größere Sinnzusammenhänge einbetten wollen“, erklärt Johannes Grave. Und diese Visualisierung ist nicht nur ein individueller, sondern auch ein sozialer Prozess. Denn unbewusst übertragen wir unsere Imaginationen auf andere. Wir gehen davon aus, dass sich unser Umfeld ähnliche Bilder entwirft wie wir selbst. Dieses gemeinsame Imaginieren ist eine wichtige Grundlage für gesellschaftliche Entscheidungen, für verbindende Narrative oder für Zukunftsvisionen. Ist der Prozess gestört, dann hat das erhebliche Auswirkungen auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Gerade diese Bedeutung motiviert die Forschenden der Universität Jena, das Phänomen des sozialen Imaginierens im Rahmen des geplanten Exzellenzclusters „Imaginamics: Praktiken und Dynamiken sozialen Imaginierens“ intensiv in den Blick zu nehmen. „Die Krisen der zurückliegenden Jahre und die damit verbundenen sich verschärfenden Spannungen in der Gesellschaft haben den Eindruck erweckt, dass wir uns nicht mehr alle in der gleichen Welt bewegen“, sagt Johannes Grave, einer der Sprecher des zukünftigen Clusters. „Störungen des sozialen Imaginierens sind sichtbar geworden. Und verschwinden die gemeinsamen Bilder, dann verschwindet auch die Bereitschaft zum Konsens. Bei konkreten Fragestellungen ist es wichtig, unterschiedliche Sichtweisen zu kennen. Bei der Betrachtung des großen Ganzen allerdings sollten wir darauf vertrauen können, dass wir uns nicht in völlig verschiedenen Vorstellungswelten bewegen.“
Während bestimmte gemeinsame Vorstellungsbilder schon breit erforscht sind und werden – etwa im Bereich der Erinnerungskultur –, wissen wir sehr wenig über den eigentlichen Prozess, aus dem sie hervorgehen. Mit dem neuen Forschungsvorhaben will das Jenaer Team das ändern. Grave sieht hier eine Chance für die Geisteswissenschaften, ihre Expertisen in hochaktuelle gesellschaftliche Diskussionen einzubringen. „Wir glauben, dass zentrale Prozesse des sozialen Imaginierens im weitesten Sinne über Praktiken des Darstellens laufen, also etwa Narrationen, Metaphern, Verbildlichungen; und darüber nachzudenken ist ein wesentlicher Bestandteil der Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Medienwissenschaften oder – wenn es um deren Einfluss auf frühere Gesellschaften geht – auch der Geschichtswissenschaften“, erklärt Johannes Grave.
Caspar David Friedrich und sein Werk bieten hierfür einen spannenden Ausgangspunkt. Wie ist er zu seinen Bildern gekommen? Wie sind Zeitgenossen damit umgegangen? Welche Wirkung haben sie heute? Die Antworten auf diese Fragen könnten viel darüber verraten, welche gemeinsamen Bilder uns verbinden.
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