Autorin: Evelyn Hochheim (Servicestelle LehreLernen)
Probleme im Zusammenhang mit (digitalen) Wissensabfragen
Waren Online-Prüfungen bis vor einem Jahr noch für die meisten von uns Neuland, so erschließen wir nun auch dieses Terrain nach und nach. Neben all den Herausforderungen, die sich hierbei stellen, ermöglicht die Umstellung auf Online-Formate auch einen Perspektivwechsel. Probleme, die wir im gewohnten Lehr- und Prüfungsalltag selten hinterfragen, treten in der Neukonzeption deutlicher zutage. Infolgedessen ist kompetenzorientiertes Prüfen wieder stärker in den Fokus gerückt und gleichzeitig wird Kritik an der reinen Wissensabfrage lauter (vgl. Wiarda 2021). Doch warum?
Zunächst wirft die digitale Prüfungssituation in besonderer Weise Fragen nach Betrugsversuchen auf. Schnell wurde deutlich, dass dort, wo Studierende Wissensbestände wiedergeben sollen, nur schwer verhindert werden kann, dass sie sich durch Recherchen behelfen, auf Skripte zurückgreifen und schließlich Antworten im Copy & Paste-Verfahren in die vorgesehenen Felder einfügen.
Von dieser Problematik ausgehend wird immer häufiger die grundsätzliche Frage aufgeworfen, welchen Zweck eine Wissensabfrage hat, wenn Wissensbestände in einem doch sehr überschaubaren zeitlichen Rahmen nachgeschlagen oder recherchiert werden können. Grundsätzlich spricht viel dafür, Studierende anzuhalten, bestimmte Wissensbestände so zu verinnerlichen, dass sie langfristig verfügbar sind. Fraglich ist jedoch, inwiefern dies durch eine punktuelle Abfrage gewährleistet wird, zumal wir wissen, dass häufig eher kurzfristig für eine Prüfung gelernt und das Wissen danach relativ rasch wieder vergessen wird.
Kompetenzorientiert Prüfen – Was ist gemeint?
Die Perspektive der Kompetenzorientierung scheint hilfreich, um dieser Problematik entgegen zu wirken. Kompetenzorientiertes Prüfen birgt Potenziale für nachhaltiges Lernen und dämmt zugleich die Betrugsproblematik ein. Aber was meint kompetenzorientiertes Prüfen? Statt zu fragen, über welches Wissen Studierende zu einem Zeitpunkt X verfügen, folgt ein kompetenzorientierter Ansatz der Frage, was die Studierenden in der Lage sind zu tun. Wie können sie ihr Wissen auf spezifische Situationen oder Fälle anwenden? Welche Vergleiche können sie anstellen? Welche Argumente liefern? Wo kritisch mit Wissensbestandteilen umgehen?
Ein häufiges Missverständnis hierbei ist, dass Kompetenzorientierung im Widerstreit mit dem Erwerb von Wissen stünde, das (fachspezifische) Wissen aus einer kompetenzorientierten Perspektive heraus als weniger relevant erachtet würde. Dies ist nicht der Fall. Es geht gerade um die Anwendung und den Transfer von erworbenen oder verfügbaren Wissensbeständen. Kompetenzorientierung in diesem Sinne bedeutet eine Erweiterung: Kompetenz kann weit mehr sein als die reine Wiedergabe von Wissen oder die Darstellung von Konzepten oder Prozessen. Selbstverständlich erfordern Wissensabfragen auch Kompetenzen, bspw. die (kurzfristige) Merkfähigkeit oder das rasche Erfassen vieler Prüfungsaufgaben und der relevanten Antworten. Jene Schnelligkeit ist insbesondere dort gefordert, wo der Betrugsversuchsproblematik mit der Erhöhung der Anzahl an Fragen bei gleichbleibender Bearbeitungszeit beizukommen versucht wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies exakt die Kompetenzen sind, die wir mit der Prüfung sichtbar machen wollen. Wichtig ist also, Prüfungsfragen so zu stellen, dass sie Studierenden ermöglichen, genau die Kompetenzen zu zeigen, auf die es uns ankommt.
Die Praxis des kompetenzorientierten Prüfens – Orientierungspunkte
Bei der Frage nach der Entwicklung und Differenzierung kompetenzorientierter Prüfungsfragen haben sich Lernzieltaxonomien als sehr hilfreich erwiesen. So unterscheiden etwa Anderson und Krathwohl (2001, angelehnt an Bloom u.a. 1972) zwischen sechs verschiedenen kognitiven Komplexitätsgraden. Die erste Ebene bildet das basale Erinnern von Wissensbestandteilen. Die zweite Stufe – das Verstehen – geht bereits über die Wiedergabe auswendig gelernter Inhalte hinaus. Durch eigene Erklärungen, das Formulieren von Beispielen oder auch das Neuanordnen von Wissensbestandteilen zeigen Studierende hier, dass sie in der Lage sind, Informationen von einer Form in eine andere zu übertragen und Sachverhalte mit eigenen Worten zu erklären und zu interpretieren. Auf der dritten Stufe folgt die Anwendung des erlernten Wissens auf konkrete fachliche Problemstellungen, beispielsweise, indem Studierende ein Modell oder ein bestimmtes Vorgehen auf ein Fallbeispiel anwenden oder ein Vorgehen methodisch oder theoretisch begründen können. Auf der vierten Stufe – dem Analysieren – sind Studierende z.B. aufgefordert, Wissensbestandteile gegenüber zu stellen, anhand bestimmter Kriterien zu vergleichen oder stärker auszudifferenzieren. Die fünfte Stufe bildet mit dem Evaluieren das im universitären Kontext häufig eingeforderte kritische Denken ab. Die Studierenden sind dann in der Lage, begründete Einschätzungen abzugeben, sich kritisch auf Texte zu beziehen oder die Plausibilität von Argumenten zu prüfen. Die Spitze der Lernzieltaxonomie bildet die Ebene des Kreierens. Die Studierenden entwickeln hier eigene Argumente oder Fragestellungen, entwerfen Texte oder lassen ihr Wissen in eine konkrete Konzeption einfließen. In Abhängigkeit der gesteckten Lernziele können für jede dieser sechs Ebenen Prüfungsfragen bzw. -aufgaben formuliert werden (siehe Abb.).