An welchen Stellen sehen Sie die Gefahr, dass die erreichten Entwicklungen nach Abklingen der Pandemie verschwinden, statt nachhaltig zu wirken? Was kann dagegen getan werden?
Ich sehe erhebliche Gefahren dafür, dass Erreichtes im allseits erschallenden Ruf nach schneller Rückkehr zur gewohnten Präsenzlehre wieder verloren geht. Das wäre sehr schade, da ich überzeugt bin, dass große Chancen mit diesem einmaligen Feldexperiment verbunden sind. Damit dies nicht geschieht, wären meines Erachtens folgende Aspekte zu beachten; hier ist vor allem auch die Politik gefragt:
- Die Lehrverpflichtungsverordnung sollte endlich den tatsächlichen Aufwand der Lehre berücksichtigen und das Deputat nicht weiterhin völlig undifferenziert über in Präsenz abgehaltene Lehrveranstaltungsstunden abrechnen. Dieses veraltete System fördert eine unambitionierte und unaufwändige Lehre und ist der Lehrqualität in demotivierender Weise abträglich. Innovative Konzepte machen viel mehr Aufwand, bringen aber nicht mehr Deputatsstunden als die recycelte Vorlesung vom letzten Jahr.
- Möchte man digitale oder hybride Lehre fördern, muss beachtet werden, dass gute digitale Lehre häufig sehr viel aufwändiger ist als reine Präsenzlehre, was viele Lehrende in den letzten Semestern deutlich bemerkt haben. Dies gilt in noch größerem Maße für hybride Lehre. Daher sollte digitale Lehre der Präsenzlehre in der Lehrverpflichtungsverordnung unter Berücksichtigung des damit jeweils verbundenen Aufwands gleichgestellt werden (so sollte etwa auch die 25%-Beschränkung der Anrechenbarkeit digitaler Lehre entfallen).
- Wenn man davon ausgeht, man könne mit dem bestehenden Personalschlüssel eine den aktuellen Erfordernissen (teils schwache, heterogen vorgebildete Studienanfänger, hohe Anforderungen der Praxis an Selbstständigkeit und Flexibilität der Absolventen und Absolventinnen, Konkurrenz zu politisch stark geförderten Fachhochschulen und dualen Hochschulen sowie zu international agierenden virtuellen Universitätsverbünden) angepasste universitäre Lehre entwickeln, wird dies der Realität nicht gerecht und werden viele gute Ideen und Initiativen im Keim erstickt. Wenn man von Massenveranstaltungen zu hochwertigerer und den aktuellen Erfordernissen entsprechender Lehre in kleineren Gruppen gelangen möchte, muss man auch akzeptieren, dass mehr Personal benötigt wird.
- Die technischen Gegebenheiten für Videoaufzeichnungen und Videokonferenzen sollten flächendeckend in alle Lehrräume ausgerollt werden. Die Technik sollte dringend auch nach der Pandemie auf dem neuesten Stand gehalten werden. Ebenso sind weiterhin Personalmittel z.B. für technisches Unterstützungspersonal nötig. Daher sind verstetigte Digitalmittel erforderlich. Ich fürchte jedoch, dass die Mittel nach Ende der Pandemie nicht mehr im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehen werden.
- Meiner Meinung nach wird ein Zurück zur gewohnten Präsenzlehre kaum mehr ohne Attraktivitätsverlust der Lehrangebote und Studiengänge möglich sein. Die Pandemie war nach meiner festen Überzeugung kein Intermezzo, sondern ein Strukturbruch. Wie schon eingangs ausgeführt, sind ohnehin notwendige Veränderungen lediglich schneller angestoßen worden. Allerdings sind auch die Erwartungen der Studierenden an die universitäre Lehre gewachsen (z.B. aus der Ferne studieren oder die Zeit freier einteilen zu können). Hier werden wir in Konkurrenz zu großen Universitäten und virtuellen Ausbildungsverbünden treten müssen, die über mehr Mittel verfügen als wir. Daher kommen der Motivation und unterstützenden Begleitung unserer Lehrenden große Bedeutung zu. Auch wenn durch die Akademie für Lehrentwicklung, LehreLernen und andere Initiativen bereits viele, wirklich gute Ansatzpunkte für die zukünftige universitäre Lehre sichtbar geworden und Unterstützungsangebote geschaffen worden sind, halte ich es für notwendig, die Entwicklung der Lehre seitens der Universität noch stärker zu fördern und zentraler auf die Agenda zu setzen. Gute und innovative Lehre muss sich lohnen.
Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach die sich verändernde Struktur in Studium und Lehre auf die Gestaltung der Studiengänge, der Curricula der Zukunft, aus?
Wie zuvor bereits mehrfach angesprochen, erwarte ich erhebliche Veränderungen in der universitären Lehre und halte diese auch für notwendig. Dies sollte bei der Gestaltung/Veränderung der Studiengänge berücksichtigt werden. Ich möchte drei Thesen aufstellen:
- Um den Erfordernissen der Arbeitsmärkte und der Heterogenität der Studierenden besser Rechnung zu tragen, sollten Studiengänge flexibler und in Teilen interdisziplinärer gestaltet sein. Neben dem notwendigen fachlichen Grundgerüst sollten mehr Wahlmöglichkeiten geschaffen werden, um der zunehmenden Ausdifferenzierung und Flexibilisierung von Berufsbildern auf den Arbeitsmärkten Rechnung zu tragen.
- Wenigstens einige dafür geeignete Master-Studiengänge sollten hybrid studierbar sein. Dies bedeutet, dass Studierende zumindest zeitweise nicht vor Ort sein müssen, aber auch vollständig in Präsenz studieren können. Dafür müssen zwar Präsenz- und Online-Lehre gleichzeitig und gleichwertig angeboten werden, aber es ist zu erwarten, dass wir mehr und ambitioniertere Studienanfänger attrahieren können. Dabei geht es nicht um eine Transformation hin zur Fernuniversität, sondern es sollte der Tendenz Rechnung getragen werden, dass viele Bachelor-Absolvierende ein Master-Studium nicht als zwingende Voraussetzung für Ihr berufliches Fortkommen, sondern als Ergänzung sehen. Auch können ggf. einige Standortnachteile Jenas (z.B. keine Headquarters von Großunternehmen) durch eine Hybridisierung von Studiengängen ausgeglichen werden.
- Die Curricula sollten weniger auf die Vermittlung von Faktenwissen und mehr auf die Entwicklung von Abstraktions- und Problemlösungsvermögen ausgerichtet sein. Bei der Gestaltung von Open Book- oder gar Open Web-Prüfungen erkennt man sehr schnell, wie leicht heutzutage Faktenwissen verfügbar ist und entsprechende Fragen gar nicht mehr gestellt werden können. Abfragen von auswendig zu lernenden „Bullet Points“ sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Die wichtigste universitäre Ressource ist das Analysieren, Verknüpfen und Ableiten. Dies sollte – auch in Bachelorstudiengängen – mehr im Mittelpunkt stehen, wobei wir wieder bei den kleineren Gruppengrößen und dem projektbasierenden Studium sind.
Was würden Sie sich für die Lehre der Zukunft wünschen?
Ich wünsche mir grundsätzlich wieder einen deutlich höheren Stellenwert der Lehre innerhalb der Universitäten. Bei Berufungsverfahren sollten gute und engagierte Lehrleistungen mindestens genauso wertgeschätzt werden wie Publikationsleistungen oder Leistungen bei der Drittmittelakquise. Die Realität sieht jedoch häufig genug anders aus.
In einem System, das vor allem von der intrinsischen Motivation seiner Mitglieder lebt, ist die Wertschätzung der Lehre der beste Hebel zur Verbesserung der Lehre. Wenn sich gute und herausragende Lehrleistungen wieder mehr lohnen, wird die Lehrsituation automatisch besser. Denn am Ende aller Überlegungen zu Lehrformen und -formaten sind es doch immer die Qualifikation, Motivation und der Einsatz der Lehrenden, welche über die Qualität und den Erfolg der Lehre entscheiden.