An interview with the historian PhD Ugur Özcan

Ugur Özcan

Image: Ugur Özcan

PhD Ugur Özcan ist Gastwissenschaftler am Lehrstuhl für Neuere Geschichte des Historischen Instituts der Universität Jena. Er wird gefördert durch ein Stipendium der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Lieber Ugur, wie ist Deine aktuelle Situation hier in Jena als Wissenschaftler? Was gefällt Dir an Deiner Arbeit im Historischen Institut am meisten?

Vielen Dank für die Frage und die Gelegenheit, Saskia. Ich bin seit 2019 Gastwissenschaftler am Lehrstuhl für Neuere Geschichte von Prof. Dr. Carola Dietze. Derzeit bin ich Philipp-Schwarz-Stipendiat, davor hatte ich ein Stipendium, das jeweils zur Hälfte vom Scholar Rescue Fund (IIE-SRF) und dem Thüringischen Wissenschaftsministerium getragen wurde. Bis 2016 arbeitete ich als „Associate Professor“ an der Istanbul-Universität. Übrigens bin ich einer von 7.000 Akademikern/innen in der Türkei, die 2016 entlassen wurden. Ich war sehr traurig, weil ich ungefähr 3 Jahre von meiner Universität weg war. Endlich ist etwas Gutes passiert und ich bekam 2019 eine Einladung von Prof. Dietze ans Historische Institut der Universität Jena. Daher bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Neuere Geschichte dankbar, dass sie mir diese Möglichkeit geben, mir ihre Türen geöffnet haben und in dieser schwierigen Zeit ein großartiges Beispiel der Solidarität zeigen. Ich mag das Solidarische und das Verständnis zwischen meinen Kolleg/innen. Wir haben jede Woche ein Kolloquium, bei dem wir über verschiedene Themen sprechen, das ist sehr wichtig für mich. Was ich an der Universität und unserem Lehrstuhl am meisten mag, ist die multikulturelle Struktur in verschiedenen Bereichen. Wissenschaftler/innen verschiedener Bereiche arbeiten in Projekten an Ideen zusammen. Tatsächlich ist das wichtiger Bestandteil der Universität. Die akademische Freiheit wird so weit wie möglich geschützt. Ich hoffe, dass alle meine beruflich entlassenen Kollegen die akademische Freiheit finden, die sie verdienen, nicht nur in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt. Wir brauchen sie wie Luft und Wasser.

Zu welchem Thema forschst Du aktuell?

Jetzt arbeite ich an einem Projekt, dass sich mit "Blutfehden auf der Balkanhalbinsel oder Südosteuropa unter osmanischer Herrschaft im 19. Jahrhundert und Friedenskommissionen zu ihrer Verhinderung" beschäftigt. Dieses Thema hat mich schon während meiner Doktorarbeit fasziniert. Ich habe gesehen, dass dieses Problem verschiedene Konflikte zwischen dem Osmanischen Reich und Montenegro verursacht hat. Ich habe es als Projekt vorbereitet, um das Thema genauer zu erforschen, und ich erhielt eine einjährige Postdoc-Einladung von der Columbia University und der Illinois University in den USA. Aber dieser Putschversuch 2016 in der Türkei hat meine Pläne auf den Kopf gestellt, wie alles andere im Land. Daher hatte ich das Glück, dieses Projekt hier in Jena realisieren zu können. Auch heute noch gibt es viele Fälle davon auf der Balkanhalbinsel oder in Südosteuropa, beispielsweise in Montenegro und Albanien. Mein Ziel ist es, diese soziale Wunde und die außergewöhnlichen Anstrengungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Historikers zu betrachten. Außerdem vervollständige ich meine unvollendeten Artikel über die osmanische Moderne, die osmanische Diplomatie und die osmanische Sicherheitsgeschichte. Ich stehe kurz vor der Fertigstellung der englischen Übersetzung meines Buches, das 2012 in der Türkei erschienen ist. Ich bin sehr glücklich, dass es viele Möglichkeiten für mich gibt, dieses interessante Thema hier zu recherchieren. Ich habe keine Schwierigkeiten, auf die Ressourcen zuzugreifen. Da die Bibliothek groß und sehr reich bestückt ist, sind Bücher, die ich für meine Arbeit benötige, einfach zu finden und ich konnte mich gut vorbereiten. Aber ich muss sagen, dass die Bibliothek ein wenig mit Literatur zur osmanischen Geschichte bereichert werden könnte.

Fühlst du dich mit deinem Lehrauftrag am Institut gut aufgehoben?

Definitiv fühle ich mich so. Ich habe hier viele Möglichkeiten, sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich. Gemeinsam mit meinen Kolleg/innen vom Lehrstuhl für Neuere Geschichte haben wir zum Beispiel einen „History Club“ organisiert und den „Ernst-Haeckel-Stein“ und die „Leuchtenburg“ besucht. Die Lehrstuhlinhaberin Prof. Dietze organisiert jeden Mittwoch ein Mittagessen, bei dem wir alle zusammenkommen und die Möglichkeit haben, uns über alles auszutauschen. Aber leider mussten wir diese Treffen aufgrund der Corona-Pandemie aussetzen. Trotzdem führen wir regelmäßig unsere Online-Meetings mit Prof. Dietze, Dr. Samir und PhD Kablou durch, in denen wir Projektintegrationen und Projektanträge besprechen. Wir haben es jedoch nicht versäumt, im Paradies-Park spazieren zu gehen und dann bei Sonnenuntergang einen heißen Kaffee zu trinken, sofern wir die Corona-Maßnahmen einhalten. Türken sagen: Bir fincan kahvenin kırk yıl hatırı vardır!.(Die Erinnerung an eine Tasse Kaffee vergisst man 40 Jahre lang nicht!). Wenn man einem Menschen etwas Gutes tut, dann vergisst er das niemals!

Auch die beiden Seminare, die ich mit meinen Kollegen Prof. Dietze, Dr. Imad Samir, Jabagh Kablou, PhD und Dr. Ariane Ludwig aus Weimar gegeben habe, zum Beispiel „Russische Berührungen mit dem Orient“ und „Deutsche Berührungen mit dem Orient“, waren sehr aufschlussreich. Letztes Semester habe ich einen Lehrauftrag erhalten, gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Dennis Dirks ein Seminar zum Osmanischen Reich abzuhalten. Das war wunderbar. Wenn ich eine Frage hatte, gab es immer die Möglichkeit, diese meinen Kolleg/innen zu stellen. Ich kann es absolut nicht vergessen und bin dankbar für die Hilfe und Unterstützung unserer Hilfskräfte Lisa Gersdorf, Lukas Lücking, Sebastian Hansen und unserer Lehrstuhlsekretärin Anke Munzert. Sie sind immer für mich da.

Ich lege großen Wert auf die Integration in die deutsche Akademie und bin mir bewusst, dass es wirklich schwierig ist. Die Gespräche mit Prof. Dietze, Prof. Stephan Mitchell („Academics in Solidarity“ Programm der Freie Universität Berlin) und Prof. Markus Koller (Ruhr Universität Bochum) während des Übergangs in die deutsche Wissenschaft und die Betreuung durch sie waren sehr aufschlussreich.

Wie geht es Dir mit der Online-Lehre während der Corona Pandemie, was ist Dir positiv in Erinnerung geblieben?

Während der Corona Situation ist es ein bisschen schwerer zu recherchieren Aber das ist nicht nur in Jena so, in der ganzen Welt ist es eine schwierige Zeit. Wir haben das Universitätssystem auf online umgestellt und Online-Veranstaltungen gemacht, Seminare und Tutorien. Es gibt auch E-Publikationen wie Zeitschriften, die im Bibliothekssystem online zu finden sind. Ich finde dieses System sehr wichtig, denn die Beiträge sind sehr wichtig für die Wissenschaftler/innen. Die Online-Lehre ist definitiv nicht mit dem Präsenzunterricht zu vergleichen, den ich lieber mag. Aber wir wissen, dass der Online-Unterricht eine gute Option für diese Zeit war und ist. Als ich mich eingewöhnt hatte, ging es nach und nach besser und wir hatten die Möglichkeit, uns mit vielen anderen Kolleg/innen auf der ganzen Welt zu treffen. Wir konnten zum Beispiel gleichzeitig ein Seminar in Amerika oder Kanada abhalten, das war sehr schön. Die Situation hat uns die Möglichkeit gegeben, kreativ zu werden.

Erinnerst Du Dich besonders gerne an eine bestimmte akademische Zusammenarbeit zurück?

Ja, es gibt tatsächlich viele akademische Zusammenarbeiten und Kooperationen, an die ich mich erinnere. Im März 2020 habe ich mit der Unterstützung von „Academics in Solidarity“ der Freie Universität Berlin und Prof. Dietze sowie ihren Mitarbeiterinnen und meinen syrischen Kollegen vom Lehrstuhl für Neuere Geschichte, PhD Kablou und Dr. Samir, einen Workshop organisiert, was sehr gut gelaufen ist. Das Thema war „Travelogues of the Orient in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries“. Es war wirklich ein tolles Erlebnis für mich. Ziel dieses Workshops war es, geflüchtete und im Exil lebende Wissenschaftler/innen mit deutschen Wissenschaftlern/innen zusammenzubringen. Ich denke, es war in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Es war vor allem ein Beispiel für Solidarität. Unter den Teilnehmern/innen des Workshops waren auch amerikanische und deutsche Wissenschaftler/innen. Zum Beispiel Prof. Isa Blumi, Dr. Stefan Knost und Dr.des.Dennis Dierks bereicherten den Workshop mit ihren Vorträgen. Alle diese Kollegen/innen sind bekannte Akademiker/innen der osmanischen Geschichte, des Nahen Ostens oder des Orients. Ich habe immer noch den Gedanken, die Ergebnisse des Workshops als Buch zu veröffentlichen. Ein türkisches Sprichwort sagt: Söz ucar yazi kalir! (was man schreibt, das bleibt!). Daher möchte ich, diese Artikel als Buch als Ergebnis dieses Workshops veröffentlichen und mit der Weltakademie teilen. 

Auch an Neujahr 2021 haben wir zusammen mit dem Lehrstuhl eine Weihnachts- oder Jahresendfeier organisiert. Wir haben uns über BigBlueButton getroffen, ein Kollege hat Gitarre gespielt und wir haben zusammen gesungen. Auch der Welcome Point des Internationalen Büros organisiert einen Stammtisch. Das war sehr schön und ich habe noch ein paar mal teilgenommen. Es hat Spaß gemacht, alle Gastwissenschaftler/innen zusammen in einem Zoom Meeting zu treffen.

Welches Gefühl verbindest Du mit Jena, im Vergleich zu Orten, an denen du zuvor geforscht und gelebt hast?

Ich kannte Jena zuvor überhaupt nicht. Zuerst lebte ich in Bocholt, eine Stadt an der deutsch-niederländischen Grenze. Nachdem ich das Scholar Rescue Fund-Stipendium erhalten hatte, hat mich Prof. Dietze eingeladen und ich bin zum ersten Mal nach Jena gekommen. Es sind mir viele Fragen durch den Kopf gegangen: Wie sind die Menschen in Jena? Wie werden mich die Leute ansehen? Gibt es Rassisten? Wie wird es mit meiner Familie? Glücklicherweise traf ich nicht auf die Dinge, die ich befürchtete. Der multikulturelle Charakter Jenas, die Gastfreundschaft der Jenaer haben mich und meine Familie sehr glücklich gemacht. Ich habe eine Frau und eine vierjährige Tochter. Eine Wohnung zu finden war nicht leicht. Die ersten sechs Monate haben wir im Gästehaus der Universität (IBZ Humboldt – Haus) gewohnt, das war hilfreich, um sich hier einzugewöhnen. Mittlerweile haben wir eine eigene Wohnung gefunden und sind umgezogen. Als ich nach Jena kam, war mein Deutsch noch auf Anfängerniveau. In dieser Phase half mir der "Welcome Point" des Internationalen Büros. Sie unterstützten bei der Hausarztsuche, der Anmeldung beim Bürgerbüro, der Beantragung beim Finanzamt und der Entsendung.

Was hat Dir geholfen, in Jena anzukommen und was schätzt du besonders an der Stadt?

Jena ist eine wunderschöne Stadt mit vielen historischen Sehenswürdigkeiten, viel Grün und sehr sonnig! Ich empfinde das Klima in Jena wärmer als in den anderen deutschen Städten, die ich bislang kennengelernt habe. Das kalte Wetter in Deutschland war vielleicht der falsche Eindruck, den wir in der Türkei hatten. Aber in Jena ist das Klima ganz anders durch die Tallage, das gefällt mir sehr. Auch die Arbeit des Internationalen Büros hat mir sehr geholfen, mich in Jena zu orientieren und die Stadt kennenzulernen. Die Jenaer Weinberge, die wir mit Dr. Mareike Rind besucht haben, und die vom Welcome Point organisierte Grillparty gehören zu den guten Erinnerungen, die mir in den Sinn kommen. Das von Dr. Rind für muslimische Gastwissenschaftler/innen vorbereitete "Halal-Menü" zeigte ihren Respekt und ihre Toleranz gegenüber verschiedenen Religionen. Insbesondere die Seminare zu den Situationen ausländischer Akademiker/innen in Deutschland und der Umgang damit haben sowohl das Einleben der Gastwissenschaftler/innen hier als auch die Integration erleichtert. Dank der Seminare des Welcome Points haben wir gelernt, nicht zu spät zum Termin zu kommen, die Bedeutung des Briefes, den Charakter der Bürokratie und die Art und Weise, mit den Deutschen zu kommunizieren. Und wir haben auch gelernt: "In Deutschland gibt es kein schlechtes Wetter, es gibt schlechte Kleidung".

Darüber hinaus waren die Sprachkurse mit der Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung eine großartige Chance, mein Deutsch zu verbessern. An dieser Stelle möchte ich meinem Deutschlehrer Herrn Nangialei Safi danken. Er hat mit seinem Wissen, seiner Geduld und seiner wunderbaren Persönlichkeit großartige Arbeit geleistet. Es war sehr sinnvoll, Weimar und Gedenkstätte Buchenwald unter der Leitung von Herrn Safi mit der Organisation des Welcome Point zu besuchen. Das "sprachCafe", das wir mit Angelika Stiasny jede Woche 45 Minuten lang mit Zoom gemacht haben, hatte großen Einfluss auf meine Verbesserung meines Deutsch. Ich besuche derzeit den B2-Kurs und mein Ziel ist es, das C1-Zertifikat zu erhalten und meine Forschung zur osmanischen Geschichte in der deutschen Akademie effizienter fortzusetzen. Naja, Ich fühle mich hier sehr zu Hause. Nach einer großen Metropole wie Istanbul finde ich es gut für mich, in einer ruhigen und friedlichen Stadt wie Jena zu leben. Auch die Tatsache, dass in Jena zwei weltberühmte Denker wie Goethe und Schiller gewirkt haben, verleiht dieser Stadt einen besonderen Wert, finde ich.

Lieber Ugur Özcan, wir bedanken uns für das Interview und wünschen Ihnen viel Erfolg und alles Gute.

Dankeschön liebe Saskia, ich habe mich sehr gefreut, dass wir miteinander gesprochen haben.

Jena im Juli 2021